KLEINE KUNST-NACHRICHTEN.
JUNI 1911.
PROFESSOR OTTO WAGNER —WIEN. Der
irische Schriftsteller Bernard Shaw nannte
Wien die zweitrückständigste Stadt Europas, in
der Menschen und Dinge, die dem XX. Jahrhun-
dert angehören, mindestens noch weitere hundert
Jahre nicht verstanden werden. Das klingt, auch
dem Nicht-Lokalpatrioten, übertrieben, erweist sich
jedoch durch viele Beispiele als wahr, unter denen
das Schicksal Otto Wagners das markanteste
ist. Daß Oberbaurat Professor Otto Wagner der
genialste Baukünstler unserer Zeit ist, weiß und
würdigt man in der ganzen Welt (Wagner ist Ehren-
und korrespondierendes Mitglied des königlichen
Institutes britischer Architekten, der Societe Centrale
d' Architectes in Paris, Ehrenmitglied der kaiser-
lichen Oesellschaft der Architekten in St. Petersburg,
des kaiserlichen St. Petersburger Architektenver-
eines, der Societade dos Archilectos Portoguezos,
des Architectural Institute of Canada, der Societe
Centrale d'Architecture de Belgique, der Gesell-
schaft zur Beförderung der Baukunst in Amsterdam
etc. etc.) - — nur in Wien nicht, das ja seine
Vaterstadt ist. Für die Wiener war es eben seit
jeher Grund genug, einen Künstler durch das ver-
kehrte Opernglas zu betrachten, wenn er das Un-
glück hatte, ein — Wiener zu sein. Obwohl aus
diesem Grunde bedauerlicher Weise die schönsten
Bauten Wagners als Projekte auf dem Papier blieben,
hat er es doch vermocht, an verschiedenen Stellen
Wiens als Wahrzeichen seines genialen Könnens
Bauten aller Art auszuführt n, - vom einfachen
Wohnhaus bis zu dem Donau-Nadelwehr bei Nuß-
dorf, von der stilvollen Villa bis zu den grandiosen
Stadtbahnanlagen, den einzigen der Welt, die nicht
eine Verhunzung, sondern eine baukünstlerische
Verschönerung der Stadt bewirken, und bis zu der
prachtvollen Kirche am Steinhof — und dadurch
der Stadt ihr eigentlich modernes Gepräge zu ver-
leihen. Als Otto Wagner an die „Wiener Aka-
demie" berufen wurde, galt die ödeste Stilkopie
als künstlerisches Schaffen, leerer Formenabklatsch
als richtige Kunstsprache, und verpönt war jede
selbständige künstlerische Regung, die in neu ge-
fundenen Formen dem Geiste ihrer Zeit Ausdruck
zu geben trachtete. Man fragte sich damals: In
welchem Stil sollen wir bauen? - anstatt: Wie
sollen wir bauen? Wagner erklärte aller künst-
lerischen Stümperei und kompilatorisch wahllosen
Anhäufung längst zwecklos gewordener Formen
den Krieg und erzog als Meister und Führer eine
Schar begabter Architekten (es sei nur an Olbrich
und Hoffmann erinnert), die man wohl als die vor-
geschrittensten der Welt bezeichnen darf. Was
Wagner, der neben seiner genial künsllerischen
Begabung über eine enorme Vitalität verfügt, voll-
brachte, ist — besonders wenn man dessen ein-
gedenk ist, daß Wien der Schauplatj seines Wirkens
ist — wahrhaft imponierend. Und er vollbrachte
seine Arbeit ohne Schwanken, ohne innere Schwierig-
keit, ohne Prahlerei. Es liegt eben, wie Ruskin
sagte, in denen, die das Beste vollbringen, eine
innerliche, unfreiwillige Kraft, die sich buchstäblich
dem Instinkte eines Tieres nähert. Man darf das
nicht mißverstehen, muß es so auffassen wie Rus-
kin meinte, der der Ansicht war, daß ein großer
Architekt nicht mit weniger Instinkt baut als der
Biber oder die Biene, sondern mit mehr, mit einer
angeborenen Beherrschung der Verhältnisse, die
alle Schönheit umfaßt, und einer göttlichen, unbe-
wußten Geschicklichkeit, die jedes Bauwerk gleich-
sam aus dem'Ärmel schüttelt. Ein altes deutsches
Sprichwort gibt dei selben Anschauung in knapperer
Form Ausdruck: Haus und Hof kann man erben,
Wissen, Kenntnis und Können erwerben, das Genie
gibt Gott allein. Der 13. Juli 1911 ist der 70. Ge-
burtstag Otto Wagners, des größten leben-
den Baukünstlers. Der Zweck dieser bescheidenen
Würdigung ist es, auf diesen Tag hinzuweisen, a.r.
£
1EIPZIG. Jahresausstellung Leipziger
_^ Künstler in Verbindung mit dem deut-
schen Künstlerbund. Mit der zweiten Jahres-
ausstellurg Leipziger Künstler (Mai bis August im
städtischen Kaufhaus), die durch den, Max
Klingers Initiative zu dankenden Anschluß des
Deutschen Künstlerbundes allgemeinere Be-
deutung gewonnen hat, dürfte endlich für Leipzig
der von den hiesigen Künstlern und Kunstfreunden
seit langem gehegte Wunsch in Erfüllung gehen,
einer alljährlich sich wiederholenden Jahresaus-
stellung größeren Stiles, nach dem Vorbilde be-
kannter Kunststädte, Stetigkeit zu sichern. Schon
ist der Plan eines eigenen Ausstellungsgebäudes
ins Auge gefaßt worden. Wenn die Ausstellung
auch nicht für den Kenner viel Neues bringt, ist
sie doch recht gut beschickt. Geschultes Verständ-
nis für Tonwerte, das Bestreben, impressionistisch
der Natur ihre Reize abzugewinnen, zahlreiche
technische Versuche, möglichst starke Illusionen
zu erreichen oder durch Steigerung der Farben
und neue Konturierungen einen neuen dekorativen
Stil zu gewinnen, daneben ungenügendes Können
und verwilderte Zeichnung, das ist die Signatur
ganzer Bilderreihen der Ausstellung.
1911. x. 8.
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JUNI 1911.
PROFESSOR OTTO WAGNER —WIEN. Der
irische Schriftsteller Bernard Shaw nannte
Wien die zweitrückständigste Stadt Europas, in
der Menschen und Dinge, die dem XX. Jahrhun-
dert angehören, mindestens noch weitere hundert
Jahre nicht verstanden werden. Das klingt, auch
dem Nicht-Lokalpatrioten, übertrieben, erweist sich
jedoch durch viele Beispiele als wahr, unter denen
das Schicksal Otto Wagners das markanteste
ist. Daß Oberbaurat Professor Otto Wagner der
genialste Baukünstler unserer Zeit ist, weiß und
würdigt man in der ganzen Welt (Wagner ist Ehren-
und korrespondierendes Mitglied des königlichen
Institutes britischer Architekten, der Societe Centrale
d' Architectes in Paris, Ehrenmitglied der kaiser-
lichen Oesellschaft der Architekten in St. Petersburg,
des kaiserlichen St. Petersburger Architektenver-
eines, der Societade dos Archilectos Portoguezos,
des Architectural Institute of Canada, der Societe
Centrale d'Architecture de Belgique, der Gesell-
schaft zur Beförderung der Baukunst in Amsterdam
etc. etc.) - — nur in Wien nicht, das ja seine
Vaterstadt ist. Für die Wiener war es eben seit
jeher Grund genug, einen Künstler durch das ver-
kehrte Opernglas zu betrachten, wenn er das Un-
glück hatte, ein — Wiener zu sein. Obwohl aus
diesem Grunde bedauerlicher Weise die schönsten
Bauten Wagners als Projekte auf dem Papier blieben,
hat er es doch vermocht, an verschiedenen Stellen
Wiens als Wahrzeichen seines genialen Könnens
Bauten aller Art auszuführt n, - vom einfachen
Wohnhaus bis zu dem Donau-Nadelwehr bei Nuß-
dorf, von der stilvollen Villa bis zu den grandiosen
Stadtbahnanlagen, den einzigen der Welt, die nicht
eine Verhunzung, sondern eine baukünstlerische
Verschönerung der Stadt bewirken, und bis zu der
prachtvollen Kirche am Steinhof — und dadurch
der Stadt ihr eigentlich modernes Gepräge zu ver-
leihen. Als Otto Wagner an die „Wiener Aka-
demie" berufen wurde, galt die ödeste Stilkopie
als künstlerisches Schaffen, leerer Formenabklatsch
als richtige Kunstsprache, und verpönt war jede
selbständige künstlerische Regung, die in neu ge-
fundenen Formen dem Geiste ihrer Zeit Ausdruck
zu geben trachtete. Man fragte sich damals: In
welchem Stil sollen wir bauen? - anstatt: Wie
sollen wir bauen? Wagner erklärte aller künst-
lerischen Stümperei und kompilatorisch wahllosen
Anhäufung längst zwecklos gewordener Formen
den Krieg und erzog als Meister und Führer eine
Schar begabter Architekten (es sei nur an Olbrich
und Hoffmann erinnert), die man wohl als die vor-
geschrittensten der Welt bezeichnen darf. Was
Wagner, der neben seiner genial künsllerischen
Begabung über eine enorme Vitalität verfügt, voll-
brachte, ist — besonders wenn man dessen ein-
gedenk ist, daß Wien der Schauplatj seines Wirkens
ist — wahrhaft imponierend. Und er vollbrachte
seine Arbeit ohne Schwanken, ohne innere Schwierig-
keit, ohne Prahlerei. Es liegt eben, wie Ruskin
sagte, in denen, die das Beste vollbringen, eine
innerliche, unfreiwillige Kraft, die sich buchstäblich
dem Instinkte eines Tieres nähert. Man darf das
nicht mißverstehen, muß es so auffassen wie Rus-
kin meinte, der der Ansicht war, daß ein großer
Architekt nicht mit weniger Instinkt baut als der
Biber oder die Biene, sondern mit mehr, mit einer
angeborenen Beherrschung der Verhältnisse, die
alle Schönheit umfaßt, und einer göttlichen, unbe-
wußten Geschicklichkeit, die jedes Bauwerk gleich-
sam aus dem'Ärmel schüttelt. Ein altes deutsches
Sprichwort gibt dei selben Anschauung in knapperer
Form Ausdruck: Haus und Hof kann man erben,
Wissen, Kenntnis und Können erwerben, das Genie
gibt Gott allein. Der 13. Juli 1911 ist der 70. Ge-
burtstag Otto Wagners, des größten leben-
den Baukünstlers. Der Zweck dieser bescheidenen
Würdigung ist es, auf diesen Tag hinzuweisen, a.r.
£
1EIPZIG. Jahresausstellung Leipziger
_^ Künstler in Verbindung mit dem deut-
schen Künstlerbund. Mit der zweiten Jahres-
ausstellurg Leipziger Künstler (Mai bis August im
städtischen Kaufhaus), die durch den, Max
Klingers Initiative zu dankenden Anschluß des
Deutschen Künstlerbundes allgemeinere Be-
deutung gewonnen hat, dürfte endlich für Leipzig
der von den hiesigen Künstlern und Kunstfreunden
seit langem gehegte Wunsch in Erfüllung gehen,
einer alljährlich sich wiederholenden Jahresaus-
stellung größeren Stiles, nach dem Vorbilde be-
kannter Kunststädte, Stetigkeit zu sichern. Schon
ist der Plan eines eigenen Ausstellungsgebäudes
ins Auge gefaßt worden. Wenn die Ausstellung
auch nicht für den Kenner viel Neues bringt, ist
sie doch recht gut beschickt. Geschultes Verständ-
nis für Tonwerte, das Bestreben, impressionistisch
der Natur ihre Reize abzugewinnen, zahlreiche
technische Versuche, möglichst starke Illusionen
zu erreichen oder durch Steigerung der Farben
und neue Konturierungen einen neuen dekorativen
Stil zu gewinnen, daneben ungenügendes Können
und verwilderte Zeichnung, das ist die Signatur
ganzer Bilderreihen der Ausstellung.
1911. x. 8.
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