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Deutsche Kunst und Dekoration: illustr. Monatshefte für moderne Malerei, Plastik, Architektur, Wohnungskunst u. künstlerisches Frauen-Arbeiten — 58.1926

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Ritter, Heinrich: Bilde, Künstler, rede nicht!
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https://doi.org/10.11588/diglit.9181#0330

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BILDE, KÜNSTLER, REDE NICHT!

Dieses Wort ist ein hübsches Beispiel dafür,
wie ein Mißverständnis herrschend werden
und sich siegreich gegen die rationale Wahrheit
behaupten kann. Man sagt „Bilde, Künstler,
rede nicht" in der Absicht, den Künstlern eine
Art Maulkorb anzulegen. Man führt dieses
Wort ins Feld gegen Künstler, die das sehr be-
greifliche Bedürfnis haben, von ihren künstle-
rischen Einsichten zu sprechen, ihre Weltan-
schauung durch Wort und Schrift zu vertreten.
Man verweist ihnen mit diesem Wort das Reden
und fordert sie auf, nur durch Werke der Kunst
sich an die Mitmenschen zu wenden.

Aber Goethe hat etwas ganz anderes gemeint,
als er diese Zeile niederschrieb. Ihm handelte
es sich um den Gegensatz von „Bilden" und
„Reden" innerhalb des Kunstwerks. Nicht
entfernt kam ihm in den Sinn, dem Künstler das
Wort über sein Werk oder zu seinem Werk
oder gar das Wort überhaupt zu verbieten. Er
stellte lediglich die Forderung auf, daß der
Künstler im Kunstwerk bildend, nicht redend
verfahren solle, d. h. daß er gestalten, daß er

Form geben, nicht aber plappern, mitteilen und
bloß sagen solle. Man vergißt beim Anführen
jenes Wortes regelmäßig, daß es zunächst auf
den Dichter gemünzt ist, der ja in der Sprache
unsrer Klassiker ebenso gut „Künstler" genannt
wird wie der Maler und der Bildhauer. Jenem
Worte folgt bei Goethe unmittelbar die erklä-
rende Zeile: „Nur ein Hauch sei dein Gedicht!"
Ein „Hauch" ist ein Gedicht nur dann, wenn in
ihm die Worte ihren trockenen, harten, buch-
stäblichen Sinn verloren und einen höheren,
bildhaften, musikalischen Sinn dafür einge-
tauscht haben. „Geredet" ist im Gedicht dann,
wenn die Dinge nur so hingesagt sind, ohne
kräftige Anschauung, ohne dichterische Gewalt,
ohne Schwung und Feuer von innen; dann ist
das Gedicht kein „Hauch" im Sinne Goethes,
sondern eine schwere, schleppende, verstän-
dige Aneinanderreihung von Vokabeln.

Trotz der ursprünglichen Gemünztheit auf den
Dichter hat das Wort aber auch einen guten
Sinn in Bezug auf die bildende Kunst. Für den
Maler, für den Bildhauer gilt genau das Gleiche
 
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