GOTTHARD KOEHL
GEMÄLDE »PARISER QUAI«
DIE TRADITION UND DAS NEUE
Die chinesische Geschichte berichtet folgen-
den Vorfall: Der Kaiser Chi-Huang-Ti der
Tsindynastie (er regierte von 225—200 v. Chr.)
wollte, daß alle Kultur und Zivilisation mit seiner
Ära neu beginnen solle. So befahl er, sämtliche
Dokumente der früheren Zeit zu zerstören. Aber
die alten Gelehrten machten ihm einen Strich
durch die Rechnung. Sie zogen sich in die Haine
und Heiligtümer zurück, und ehe noch die Tafeln
zerbrochen und die Rollen verbrannt wurden,
hatten sie die überlieferten Schriften „auswendig
gelernt und buchstäblich beherzigt". So waren
sie imstande, das heilige Bildungserbe mündlich
durch ihre Jünger über die Regierungszeit des
Reformkaisers hinweg zu bewahren.
Jene alten chinesischen Gelehrten sind wirk-
liche Weise gewesen. Sie wußten, daß es rich-
tige und falsche Arten des Bewahrens, oder
anders gesagt, daß es kluge und törichte Wege
der Erneuerung gibt. Sie gingen nicht hin und
vergruben die Schriften, nein, sie erlernten und
beherzigten sie. Sie lebten nach der Weisung.
Dadurch wurde deren Wert erhalten. Die Ge-
setze blieben wirkliche Lebenshilfe und konnten
den Jüngeren gereicht werden. Kurz: der Sinn
der Tradition war unmittelbar bewahrt, das heißt
durch lebendige Erfüllung von Grund aus er-
neuert worden. Nicht im stummen Dokument,
nur in der Tatsache ihres Bestandes schlummernd,
vermochte die Tradition es, unbesiegbar zu sein.
Die krisenhafte Natur der heutigen europä-
ischen Kulturlage, die ganz besonders auf dem
Gebiet der Künste zu Tage tritt, erlaubt uns, von
einer Weltstunde der Erneuerung zu sprechen.
Es ist offenbar, daß diese Erneuerung des gei-
stigen Bestands nicht ohne eine weise und ver-
nünftige Sinnbewahrung und Weiterbildung der
gegebenen Tradition geleistet werden kann.
Wir dürfen nicht Tabula rasa machen und will-
kürlich neusetzen; es geht für uns nicht an, mit
der Kultur von vorne zu beginnen. Wir sind nicht
Menschen des Anfangs mehr, sondern Enkel und
Erben. Jeder Vorstoß, der sich gegen das Wesen
und die Richtung der abendländischen Überlie-
ferung richtet und ihre Grundlagen, ihr bestimm-
tes Kräfteverhältnis und die nur ihr eigene ge-
schichtliche Lagerung des Weltstoffs nicht er-
kennt, wird im Verwirklichungsraum immer auf
das Alte und Gewordne aufstoßen und sich ihm
anzupassen haben. Die Magie und die überzeit-
liche Leuchtkraft der Tradition sind ungeheuer.
Die Tradition hat die morphologischen Trägheits-
gesetze auf ihrer Seite: das praktische vom Rück-
fall, wonach Revolutionen stets Reformationen
GEMÄLDE »PARISER QUAI«
DIE TRADITION UND DAS NEUE
Die chinesische Geschichte berichtet folgen-
den Vorfall: Der Kaiser Chi-Huang-Ti der
Tsindynastie (er regierte von 225—200 v. Chr.)
wollte, daß alle Kultur und Zivilisation mit seiner
Ära neu beginnen solle. So befahl er, sämtliche
Dokumente der früheren Zeit zu zerstören. Aber
die alten Gelehrten machten ihm einen Strich
durch die Rechnung. Sie zogen sich in die Haine
und Heiligtümer zurück, und ehe noch die Tafeln
zerbrochen und die Rollen verbrannt wurden,
hatten sie die überlieferten Schriften „auswendig
gelernt und buchstäblich beherzigt". So waren
sie imstande, das heilige Bildungserbe mündlich
durch ihre Jünger über die Regierungszeit des
Reformkaisers hinweg zu bewahren.
Jene alten chinesischen Gelehrten sind wirk-
liche Weise gewesen. Sie wußten, daß es rich-
tige und falsche Arten des Bewahrens, oder
anders gesagt, daß es kluge und törichte Wege
der Erneuerung gibt. Sie gingen nicht hin und
vergruben die Schriften, nein, sie erlernten und
beherzigten sie. Sie lebten nach der Weisung.
Dadurch wurde deren Wert erhalten. Die Ge-
setze blieben wirkliche Lebenshilfe und konnten
den Jüngeren gereicht werden. Kurz: der Sinn
der Tradition war unmittelbar bewahrt, das heißt
durch lebendige Erfüllung von Grund aus er-
neuert worden. Nicht im stummen Dokument,
nur in der Tatsache ihres Bestandes schlummernd,
vermochte die Tradition es, unbesiegbar zu sein.
Die krisenhafte Natur der heutigen europä-
ischen Kulturlage, die ganz besonders auf dem
Gebiet der Künste zu Tage tritt, erlaubt uns, von
einer Weltstunde der Erneuerung zu sprechen.
Es ist offenbar, daß diese Erneuerung des gei-
stigen Bestands nicht ohne eine weise und ver-
nünftige Sinnbewahrung und Weiterbildung der
gegebenen Tradition geleistet werden kann.
Wir dürfen nicht Tabula rasa machen und will-
kürlich neusetzen; es geht für uns nicht an, mit
der Kultur von vorne zu beginnen. Wir sind nicht
Menschen des Anfangs mehr, sondern Enkel und
Erben. Jeder Vorstoß, der sich gegen das Wesen
und die Richtung der abendländischen Überlie-
ferung richtet und ihre Grundlagen, ihr bestimm-
tes Kräfteverhältnis und die nur ihr eigene ge-
schichtliche Lagerung des Weltstoffs nicht er-
kennt, wird im Verwirklichungsraum immer auf
das Alte und Gewordne aufstoßen und sich ihm
anzupassen haben. Die Magie und die überzeit-
liche Leuchtkraft der Tradition sind ungeheuer.
Die Tradition hat die morphologischen Trägheits-
gesetze auf ihrer Seite: das praktische vom Rück-
fall, wonach Revolutionen stets Reformationen