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Deutsche Kunst und Dekoration: illustr. Monatshefte für moderne Malerei, Plastik, Architektur, Wohnungskunst u. künstlerisches Frauen-Arbeiten — 69.1931-1932

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M., W.: Der große Irrtum: Zur Philosophie der modernen Kunstfeindschaft
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https://doi.org/10.11588/diglit.7203#0235

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227

DER GROSSE IRRTUM

ZUR PHILOSOPHIE DER MODERNEN KUNSTFEINDSCHAFT

Es gibt heute starknervige Stellungnahmen
gegen die Kunst, und damit meine ich
nicht die von der wirtschaftlichen Not erpreßte
Abkehr von der Kunst, sondern etwas ganz
anderes. Ich meine diejenige moderne Kunst-
kälte, die sich auf eine neu aufgetauchte an-
thropologische Grundansicht stützt. Diese neue
Anthropologie tritt nicht in wissenschaftlichem
Gewand auf. Sie tritt auf in Gestalt der Über-
zeugung, daß der heutige Mensch sich im un-
mittelbaren Verkehr mit der Wirklichkeit rest-
los erfüllen könne und müsse. Sie ruft aus:
Fort mit der Religion, fort mit der Kunst —
denn beide beruhen auf einem Auseinander-
treten von Bewußtsein und Leben, Schau und
Wirklichkeit, das wir nicht mehr anerkennen
wollen. „Wer sich ernsthaft um Gott und Gött-
liches bemüht, gehört nicht zu uns", verkündigte
jüngst ein Schriftsteller, der behauptete, damit
für die ganze Jugend von heute zu sprechen;
und im gleichen Atemzuge lehnte er jeden höhe-
ren geistigen Anspruch der Kunst, jede Not-
wendigkeit einer Erkenntniskritik ab. Andere
sprechen das nicht so klar aus. Aber geht man
das Denken des hier in Rede stehenden Men-
schentyps Punkt für Punkt durch, so stößt man
überall auf denselben anthropologischen Grund-
gedanken: Leugnung der grundlegenden Span-
nungen im Menschen, Leugnung des Abstandes
zwischen Denken und Sein, zwischen Bewußt-
sein und Wirklichkeit, Leugnung aller Ent-
gegensetzungen im Menschen, die seither als
Grundgegebenheiten seiner geistig-seelischen
Struktur angesehen wurden.

Das alles bedeutet aber nichts anderes, als
daß dieses Denken die Wirklichkeit des Men-
schen nicht kennt oder vielmehr nicht aner-
kennt, denn auf dem, was er leugnet, beruhen

nicht nur Kunst und Religion, sondern auch
alles Denken und Sprechen. Was ist Sprache
anderes als Begegnung zwischen dem Menschen-
geist und der Realität, die ein gewisses Aus-
einandersein dieser beiden Faktoren zur un-
mittelbaren Voraussetzung hat? Was ist alles
Forschen, Wissen, Gesetzempfinden, Erklären
anderes als ein selbständiges Ergreifen und
Verarbeiten des Wirklichen durch den Geist,
ein „Deuten", ein Herübernehmen der Dinge
aus ihrem An-Sich in die Welt des Geistes, wo
es etwas so Sonderbares gibt wie „Logik", und
das noch Sonderbarere des Sittengesetzes und
der Schönheit?

Es ergibt sich: die moderne Kunstfeindschaft
kann die Kunst nur anfeinden, indem sie zu-
gleich zu unaufhebbaren Grundgegebenheiten
der menschlichen Struktur in Widerspruch tritt.
Religion und Kunst können nur abgeschafft
werden, wenn man zugleich das Menschentum
abschafft. Der anthropologische Grundgedanke,
auf dem sich die moderne Kunstgegnerschaft
erhebt, mag eine Waffe im Dienst einer be-
stimmten geistesgeschichtlichen Tendenz
sein; als Aussage über das Wesen des Menschen
ist er der tollste, unsinnigste Irrtum, der je
unter Menschen aufkam. Deshalb wird sein
Schicksal dasselbe sein, das allen grundsätz-
lichen Irrtümern seit je beschieden war. Mit
einem Irrtum und aus einem Irrtum läßt sich
eine Zeitlang leben, nämlich so lange, als man
nicht durchgängig Ernst mit ihm macht. In
dem Augenblick aber, wo dieses Ernstmachen
eintritt, entwickeln sich aus ihm Tod und Ver-
derben, und was dann im Menschen noch leben
will, muß sich, wie von sengender Flamme be-
rührt, von dem Irrtum zurückziehen und von
neuem den Weg der Wahrheit gehen.... w. M.
 
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