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Deutsche Kunst und Dekoration: illustr. Monatshefte für moderne Malerei, Plastik, Architektur, Wohnungskunst u. künstlerisches Frauen-Arbeiten — 69.1931-1932

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Wenzel, Alfred: Dichtegrad des Kunstwerks
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https://doi.org/10.11588/diglit.7203#0135

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b i m i n i -
werkstätte
»glas - blas-
arbeit«

DICHTEGRAD DES KUNSTWERKS

Dichtung" — damit ist immer nur die Wort-
Kunst gemeint. Eigentlich aber könnte diese
Bezeichnung als allgemeine Wesensbestimmung
für jede der Künste gelten. Denn jede Kunst ist
ihrem Sinne nach „Dichtung": Dichtung, Ver-
Dichtung von Welt, — einer äußeren Welt, die
wir als Umgebung um uns herum wahrnehmen,
und einer inneren Welt des psychischen Seins.

Auch anderes wirkt freilich die Kunst: sie
schmückt. Und es hat Zeiten gegeben, in
denen sich der Anspruch, das Begehren darauf
beschränkte, von der Kunst nur den Schmuck
des Daseins zu verlangen; die Kunst solcher
Zeiten ist „dekorativ": schöner Schein, als
Spiegelbild einer epikuräisch genießenden, von
der Sonne des Reichtums überglänzten Lebens-
führung, oder — in Perioden des Niedergangs
— als Stimmungselement, und als Wunschbild
einer Herrlichkeit, die — wie etwa die Renais-
sance in der Makart-Zeit — zurückersehnt wird,
und der man gewissermaßen die „Szene" schafft,
auf der sie sich wiederbeleben könnte.

Wir unterschätzen die dekorativen Werte, den
zierenden Schmuck keineswegs. Aber das, wo-
rauf es uns heute vor allem ankommt, das, was
uns an Kunstwerken der Vergangenheit vor
allem anrührt, und was wir von der Kunst unserer

Tage verlangen, ist jene „Dichtung", — der
Wert, den das Kunstwerk für uns hat, ist, so
kann man sagen, durch seinen Dichtegrad
bestimmt: durch den mehr oder weniger hohen
Grad, bis zu dem hier menschliches Sein, reale
Weltwirklichkeit und geahnte Überwelt in jene
sichtbare oder hörbare Form eingegangen sind,
in der sich das Einzelne, Verstückelte, das Frag-
mentarische und Unzusammenhängende zum
Ganzen, zur überblickbaren Einheit fügt, wo
alles, was — nach Nietzsches Wort — „Bruch-
stück ist und Rätsel und grauser Zufall", sich zu-
sammenschließt, miteinander verbindet, ineinan-
der aufgeht, wo alles Sinnlose realer Existenz,
das Zwiespältige und alles Beunruhigende, das
von ihm herkommt, sich auflöst, sich entspannt,
indem es übersichtlich wird.

„Dichtung" ist Klärung, — doch ist dies
keine Ver-Klärung; die brauchen wir nicht, der
Mensch von heute ist schlicht und macht sich
nichts vor. Wenn wir vom Kunstwerk die
„Dichte" verlangen — die Klarheit des Übersicht-
lichen, in dem die „Schatten" des Lebens nicht
aufgehoben, nur durchleuchtet sein sollen, — so
tun wir es doch nur, um, sobald es sich als ein
Überblickbares vor uns auftut, „Ja" zu sagen
zu allem, auch wenn es herb ist. dr. alfred wenzel.

XXXV. November 1931. 7
 
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