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Deutsche Kunst und Dekoration: illustr. Monatshefte für moderne Malerei, Plastik, Architektur, Wohnungskunst u. künstlerisches Frauen-Arbeiten — 69.1931-1932

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Michel, Wilhelm: Die innere Struktur des Meisterwerks
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https://doi.org/10.11588/diglit.7203#0062

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DIE INNERE STRUKTUR DES MEISTERWERKS

VON WILHELM MICHEL

Man verwendet manchmal zur Untersuchung
alter Gemälde die Röntgen-Photographie.
Diese macht die tieler liegenden Schichten der
Malsubstanz erkennbar, und da zeigt sich, daß
das Original fast immer in allmählichem Anstieg,
über mehrere Etappen hinweg, zu seiner Endform
kommt, während in der Kopie oder Fälschung
diese Etappen fehlen. Eine Figur z. B., die aus
einem Tor heraustritt und teilweise von der Archi-
tektur überschnitten ist, zeigt sich im Original als
Ganzfigur angelegt, und die verdeckenden Archi-
tekturteile sind später darüber gemalt. Der Kopist
oder Fälscher setzt dagegen nur die Teile hin,
die faktisch gesehen werden. Er legt nicht den
Weg zurück, auf dem das Original zu seiner
Schauseite gekommen ist, sondern hält sich nur
an das sichtbare Endergebnis. Das Original zeigt
gegenüber der Kopie noch Vieles unter der
Oberfläche. Es hat unter seiner Haut gewisser-
maßen einen Knochenbau, eine Anatomie, einen
Organismus, genau wie ein lebender Körper.

Eine analoge Feststellung läßt sich nun aber
auch nach der geistigen Seite hin machen.

Wenn es um die Frage geht: Wie unterscheidet
sich das Meisterwerk in seinem Wesen vom
Durchschnittswerk?, dann kann man den Satz
aufstellen: Das Meisterwerk kommt aus einem
Wissen und Mühen um das Ganze, es
enthält namentlich immer „mehr" als das, was es
zunächst zu zeigen scheint, es enthält nament-
lich immer „mehr" als was der Nachahmer von
ihm begreift und faßt. Das Meisterwerk hat auch
der geistigen Entstehung nach eine Struktur, die
seine Herkunft aus weiteren Zusammenhängen,
mächtigeren Wirklichkeiten erweist — und diese
Herkunft, diese geheime Verbindung mit dem
„Ganzen" ist es, die seinen Rang als Meister-
werk sicher stellt. Es gibt eine Rembrandt-
Manier. Es gibt eine für van Gogh oder für Ce-
zanne oder für Münch bezeichnende Art der
Formanalyse, des Bildaufbaus, der koloristischen
Behandlung. Diese Manieren und Verfahrungs-
weisen kann das anlehnungsbedürftige Talent er-
greifen, kann der Kunsthistoriker, der Kritiker
benennen. Aber das Meisterwerk ist immer noch
etwas ü b e r diese Manier hinaus; es ist Meister-
 
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