DIE ENTSTEHUNG DES KUNSTWERKES
VON WILHELM MICHEL
Ein Mann wollte von Mozart wissen, wie seine
Werke in ihm entstünden. — Mozart schrieb
ihm einen langen Brief. Er ist vielleicht die schön-
ste und klarste Botschaft aus dem Lande des
künstlerischen Schaffens, die wir besitzen. Sie
gilt für alle Künste gleich, und es lohnt sich,
ihren Aussagen nachzugehen.
Zum frühesten Keim des Werkes, zum „Einfall",
sagt Mozart das Folgende: „Wenn ich recht für
mich bin und guter Dinge, etwa auf Reisen im
Wagen, oder nach guter Mahlzeit beym Spazieren,
und in der Nacht, wenn ich nicht schlafen kann;
da kommen mir die Gedanken stromweis und
am besten. Woher und wie, das weiß ich nicht,
kann auch nichts dazu."
Das ist die erste Etappe. Der „Einfall" ist völlig
irrational. Maler und Dichter haben ähnlich von
ihm berichtet, immer nur in knappen Worten,
weil sich eigentlich nichts davon sagen läßt. Es
gestaltet sich etwas. Es meldet sich etwas zum
Wort. Manchmal hört man von Künstlern, daß
der „Einfall" nicht einmal etwas Gestaltetes ist,
sondern nur eine Art „Reiz", der plötzlich im
Gemüt auftaucht und einen „Hunger nach
Worten" oder einen „Hunger nach Farben und
Formen" hat. Dieser Hunger stürzt sich dann in
die Substanzen hinein und zieht so viel Worte,
Farben, Formen an sich, bis er „satt" ist — und
dann ist das Werk da. Man hört auch gelegent-
lich Vergleiche dieses Vorgangs mit dem Kristalli-
sierungsvorgang: der „Reiz" ist gleichsam der
Faden, den man in eine gesättigte Lösung hängt
und an den dann die Kristalle anschießen.
Wie dem auch sei; der ersten Etappe, die
völlig unwillkürlich und irrational ist, folgt eine
zweite, bei der nun alsbald der Geist in Tätigkeit
tritt. Mozart fährt fort:
„Die (Gedanken, die) mir nun gefallen, die
behalte ich im Kopfe, und summe sie wohl auch
vor mich hin, wie mir Andere wenigstens gesagt
haben. Halt' ich das nun fest, so kommt mir bald
Eins nach dem Andern bey, wozu so ein Brocken
zu brauchen wäre, um eine Pastete daraus zu
machen nach Contrapunkt, nach Klang der ver-
schiedenen Instrumente, et caetera."
Hier geschieht, wie man sieht, eine erste Wahl
und eine Übernahme des im Dunkel Entstandenen
durch den Geist und den künstlerischen Willen.
Der Einfall wird auf seine „Brauchbarkeit" ge-
prüft, also darauf, wie er in rationale Zweck-
und Formgefüge einzustellen sei. Die Erwähnung
dieser Etappe ist deshalb wichtig, weil sie zeigt,
wie früh schon das Eingreifen der bewußten
Gemütskräfte in die Entstehung des Kunstwerkes
erfolgt. — Die dritte Etappe ist in Mozarts Brief
nun charakterisiert als die Stufe der eigentlichen
Gestaltung. Mozart fährt fort:
„Das erhitzt mir nun die Seele, wenn ich
nämlich nicht gestört werde; da wird es immer
größer; und ich breite es immer weiter und heller
aus; und das Ding wird im Kopfe wahrlich fast
fertig, wenn es auch lang ist, so daß ichs hernach
mit einem Blick, gleichsam wie ein schönes Bild
oder einen hübschen Menschen, im Geiste über-
sehe, und es auch garnicht nacheinander, wie es
hernach kommen muß, in der Einbildung höre,
sondern wie gleich alles zusammen."
Wesentlich für diese dritte Stufe der Gestal-
tung ist das gleichsam Selbständig-Werden
des Werkes gegenüber dem Künstler. Das Werk
löst sich vom Schöpfer ab und steht ihm als ein
fast objektives „Ding" gegenüber. „Es wird
immer größer". Und doch ist dieses Größer-
Werden zugleich vom Künstler aus ein Schaffen,
unter „Erhitzung" der Seele. Man glaubt aus
Mozarts Worten förmlich zu sehen, wie diese
Hitze aus dem Zusammenstoßen der dunklen
Vitalkräfte und der hellen Geistkräfte entsteht
und das Ding „im Kopfe" fertig kocht. Dieser
Augenblick, in dem der Künstler spürt, wie das
Werk ein eigenes „Wesen" wird, wie es einen
eigenen „Willen" bekommt, so daß es sich gleich-
sam im Weiterwachsen von ihm „bedienen" läßt
— dieser Augenblick ist der Moment der eigent-
lichen Geburt des Werkes. Es ist da „fast
fertig", d. h. es hat vitale Gestalt und Echtheit,
es ist zur kreatürlichen Existenz gekommen.
Daran schließt sich nun die vierte Stufe, in
der das Werk die eigentliche Form, besser: seine
Gesamtform erhält. Schon der letzte Satz des
vorigen Briefabschnittes hat darauf hingewiesen,
wo Mozart davon spricht, daß er das Werk nun
wie ein schönes Bild oder einen hübschen Men-
schen „im Geiste übersieht". Er fährt fort:
„Das ist nun ein Schmauss. Alles das Finden
und Machen gehet in mir nur, wie in einem
schön-starken Traume vor: aber das Überhören,
so alles zusammen, ist doch das Beste."
Es kommt hier, sagte ich, zur eigentlichen Ge-
samtform. Bis zur dritten Stufe wurde das Werk
strikte aus dem eigenen Keim entwickelt; auf
der vierten Stufe nun kehrt es sich resolut nach
außen, der Welt zu, und befestigt sich in den-
jenigen Zügen, die es der Welt draußen zeigt; es
gewinnt das Letzte an Umriß, Oberfläche, Grenze,
Schauseite, Sinnfälligkeit. Es wird völlig objektiv;
es setzt sich zu den Formgesetzen in Beziehung,
es nimmt die Verbindung mit Menschen und
VON WILHELM MICHEL
Ein Mann wollte von Mozart wissen, wie seine
Werke in ihm entstünden. — Mozart schrieb
ihm einen langen Brief. Er ist vielleicht die schön-
ste und klarste Botschaft aus dem Lande des
künstlerischen Schaffens, die wir besitzen. Sie
gilt für alle Künste gleich, und es lohnt sich,
ihren Aussagen nachzugehen.
Zum frühesten Keim des Werkes, zum „Einfall",
sagt Mozart das Folgende: „Wenn ich recht für
mich bin und guter Dinge, etwa auf Reisen im
Wagen, oder nach guter Mahlzeit beym Spazieren,
und in der Nacht, wenn ich nicht schlafen kann;
da kommen mir die Gedanken stromweis und
am besten. Woher und wie, das weiß ich nicht,
kann auch nichts dazu."
Das ist die erste Etappe. Der „Einfall" ist völlig
irrational. Maler und Dichter haben ähnlich von
ihm berichtet, immer nur in knappen Worten,
weil sich eigentlich nichts davon sagen läßt. Es
gestaltet sich etwas. Es meldet sich etwas zum
Wort. Manchmal hört man von Künstlern, daß
der „Einfall" nicht einmal etwas Gestaltetes ist,
sondern nur eine Art „Reiz", der plötzlich im
Gemüt auftaucht und einen „Hunger nach
Worten" oder einen „Hunger nach Farben und
Formen" hat. Dieser Hunger stürzt sich dann in
die Substanzen hinein und zieht so viel Worte,
Farben, Formen an sich, bis er „satt" ist — und
dann ist das Werk da. Man hört auch gelegent-
lich Vergleiche dieses Vorgangs mit dem Kristalli-
sierungsvorgang: der „Reiz" ist gleichsam der
Faden, den man in eine gesättigte Lösung hängt
und an den dann die Kristalle anschießen.
Wie dem auch sei; der ersten Etappe, die
völlig unwillkürlich und irrational ist, folgt eine
zweite, bei der nun alsbald der Geist in Tätigkeit
tritt. Mozart fährt fort:
„Die (Gedanken, die) mir nun gefallen, die
behalte ich im Kopfe, und summe sie wohl auch
vor mich hin, wie mir Andere wenigstens gesagt
haben. Halt' ich das nun fest, so kommt mir bald
Eins nach dem Andern bey, wozu so ein Brocken
zu brauchen wäre, um eine Pastete daraus zu
machen nach Contrapunkt, nach Klang der ver-
schiedenen Instrumente, et caetera."
Hier geschieht, wie man sieht, eine erste Wahl
und eine Übernahme des im Dunkel Entstandenen
durch den Geist und den künstlerischen Willen.
Der Einfall wird auf seine „Brauchbarkeit" ge-
prüft, also darauf, wie er in rationale Zweck-
und Formgefüge einzustellen sei. Die Erwähnung
dieser Etappe ist deshalb wichtig, weil sie zeigt,
wie früh schon das Eingreifen der bewußten
Gemütskräfte in die Entstehung des Kunstwerkes
erfolgt. — Die dritte Etappe ist in Mozarts Brief
nun charakterisiert als die Stufe der eigentlichen
Gestaltung. Mozart fährt fort:
„Das erhitzt mir nun die Seele, wenn ich
nämlich nicht gestört werde; da wird es immer
größer; und ich breite es immer weiter und heller
aus; und das Ding wird im Kopfe wahrlich fast
fertig, wenn es auch lang ist, so daß ichs hernach
mit einem Blick, gleichsam wie ein schönes Bild
oder einen hübschen Menschen, im Geiste über-
sehe, und es auch garnicht nacheinander, wie es
hernach kommen muß, in der Einbildung höre,
sondern wie gleich alles zusammen."
Wesentlich für diese dritte Stufe der Gestal-
tung ist das gleichsam Selbständig-Werden
des Werkes gegenüber dem Künstler. Das Werk
löst sich vom Schöpfer ab und steht ihm als ein
fast objektives „Ding" gegenüber. „Es wird
immer größer". Und doch ist dieses Größer-
Werden zugleich vom Künstler aus ein Schaffen,
unter „Erhitzung" der Seele. Man glaubt aus
Mozarts Worten förmlich zu sehen, wie diese
Hitze aus dem Zusammenstoßen der dunklen
Vitalkräfte und der hellen Geistkräfte entsteht
und das Ding „im Kopfe" fertig kocht. Dieser
Augenblick, in dem der Künstler spürt, wie das
Werk ein eigenes „Wesen" wird, wie es einen
eigenen „Willen" bekommt, so daß es sich gleich-
sam im Weiterwachsen von ihm „bedienen" läßt
— dieser Augenblick ist der Moment der eigent-
lichen Geburt des Werkes. Es ist da „fast
fertig", d. h. es hat vitale Gestalt und Echtheit,
es ist zur kreatürlichen Existenz gekommen.
Daran schließt sich nun die vierte Stufe, in
der das Werk die eigentliche Form, besser: seine
Gesamtform erhält. Schon der letzte Satz des
vorigen Briefabschnittes hat darauf hingewiesen,
wo Mozart davon spricht, daß er das Werk nun
wie ein schönes Bild oder einen hübschen Men-
schen „im Geiste übersieht". Er fährt fort:
„Das ist nun ein Schmauss. Alles das Finden
und Machen gehet in mir nur, wie in einem
schön-starken Traume vor: aber das Überhören,
so alles zusammen, ist doch das Beste."
Es kommt hier, sagte ich, zur eigentlichen Ge-
samtform. Bis zur dritten Stufe wurde das Werk
strikte aus dem eigenen Keim entwickelt; auf
der vierten Stufe nun kehrt es sich resolut nach
außen, der Welt zu, und befestigt sich in den-
jenigen Zügen, die es der Welt draußen zeigt; es
gewinnt das Letzte an Umriß, Oberfläche, Grenze,
Schauseite, Sinnfälligkeit. Es wird völlig objektiv;
es setzt sich zu den Formgesetzen in Beziehung,
es nimmt die Verbindung mit Menschen und