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Deutsche Kunst und Dekoration: illustr. Monatshefte für moderne Malerei, Plastik, Architektur, Wohnungskunst u. künstlerisches Frauen-Arbeiten — 69.1931-1932

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Michel, Wilhelm: Die Entstehung des Kunstwerkes
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https://doi.org/10.11588/diglit.7203#0106

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98

Dingen auf, es geht aus der Kinderstube endgiltig
insFreie hinaus. Das „Überhören", von demMozart
spricht, ist natürlich nicht nur ein passives Hören,
es ist zugleich die Formgebung, denn es ist ja ein
Überhören „so alles zusammen", d. h. es ist ein
Zusammenordnen und -fügen, es hat einen bau-
enden und formenden Sinn.

Es ist nur folgerichtig, wenn Mozart für das
Geschehen dieser vierten Stufe Worte aus dem
Sprachschatz der klaren, objektiven Anschau-
ung verwendet, weil hier wie das „Übersehen",
das „schöne Bild" oder den „hübschen Menschen"
—- weil hier tatsächlich erst die volle, nach außen
gewendete Form entsteht. Sehr aufschlußreich ist
dabei für den Laien die Bemerkung, daß er den
musikalischen Gedanken hier nicht als einen Ab-
lauf von Melodie, als ein Nacheinander über-
hört, sondern „wie gleich alles zusammen." Das
ist eine sehr eindrucksvolle Prägung für Etwas,
das der Laie am künstlerischen Denken und
Ausbauen am schwersten begreift. Es zeigt sich
hier das grenzenlose innere Zusammenhängen des
Werkes nach allen seinen Teilen, seine Herkunft
aus einer Region, wo die Zeit gleichsam stille
steht, wo es nur den ewigen, währenden, er-
füllten Augenblick gibt, kein Nacheinander der
Minuten und sogar kein Auseinander der Orte.
Dieser eigenartigen Simultanstruktur des künstle-
rischen Anschauens entspringt es auch, wenn
Maler gelegentlich verschiedene Szenen aus dem-
selben Geschehen neben einander auf die gleiche
Bildtafel gebracht haben: fürdaskünstlerische, wie
übrigens auch für dasekstatischeErlebenliegtalles
Nacheinander in der einen, erfüllten Gegenwart.

Der Vorgang der Werkentstehung vollendet
sich als dann in der fünften Etappe, die als die Stufe
der Ausführung zu bezeichnen ist. Mozart
sagt darüber:

„ Was nun so geworden ist, das vergesse ich nicht
leicht wieder; und das ist vielleicht die beste Gabe,
die mir unser Herregott geschenkt hat. Wenn ich
nun hernach einmal zum Schreiben komme, so
nehme ich aus dem Sack meines Gehirnes, was
vorher, wie gesagt, hineingesammlet ist. Darum
kömmt es hernach auch ziemlich schnell aufs Pa-
pier; denn es ist, wie gesagt, eigentlich schon
fertig, und wird auch selten viel anders, als es
vorher im Kopfe gewesen ist."

Das Ausführen ist bei Mozart, wie man sieht,
kaum mehr als Niederschrift, beinahe Abschrift
des im Kopf schon fertig Vorliegenden. Beim
Maler, beim Dichter wird wohl auch auf dieser
Stufe noch manches Wichtigere geschehen. Das
ist von Fall zu Fall verschieden — aber in der
Hauptsache sind die einzelnen Etappen des
Schaffensprozesses in Mozarts Schilderung un-
übertrefflich klar beobachtet und für jeden
Künstler gültig dargestellt. Der Maler kann natür-

lich ein Bild nicht so weitgehend „im Kopfe fertig
machen" wie es der Musiker und der lyrische
Dichter in ihrem Bereich tun können, zumal
wenn er vor der Natur arbeitet. Da geht es in
der Regel sehr schnell vom äußeren Erblicken
der Landschaft oder des Modells zur inneren
Anschauung, die den „Einfall" stiftet, die Stufen
der Gestaltung, der Formgebung und Ausführung
werden vielleicht in denselben Handgriffen zu-
sammenfallen. Aber das darf nicht darüber
täuschen, daß die Verschiedenheit der psychi-
schen Akte bestehen bleibt, die in ihrem wun-
derbaren Zusammenwirken das Kunstwerk her-
vorbringen.

Nochmals: es gibt ganz wenige Zeugnisse aus
Künstlermund, die so unmittelbar an die Ent-
stehung des Kunstwerkes heranführen, wie dieses.
Mozart spricht hier die interne Sprache der
künstlerischen Psychologie, die Fachsprache; und
er spricht sie doch zugleich nach außen, zum
Laien hin, so daß hier das Esoterische wirklich
zugegen ist, aber im exoterischen, im „profanen"
Wort. Es wäre dem genauesten wissenschaftlichen
Vorgehen nicht möglich, die einzelnen Stufen
der Werkentstehung behutsamer von einander
zu unterscheiden und kräftiger zu charakter-
isieren; namentlich auch nicht, das Eigentliche
und Besondere des künstlerischen Schaffensvor-
ganges schöner im begrifflichen Wort zu erhalten.
Der Schaffensvorgang hat in dieser Mozart'schen
Schilderung all seinen Duft, seine wachstümliche
Urnatur bewahrt. Es ist gleichsam Anatomie
unter voller Erhaltung des Lebensvorganges —
während sonst das Reden über künstlerisches
Schaffen gar zu leicht in ein Zerreden der eigent-
lichen Kostbarkeit, nämlich des Lebenerfüllten
an dem Vorgang, ausläuft.

Für die heutige Kunstbetrachtung ist an dieser
Mozart'schen Schilderung besonders wichtig, daß
sie mit wunderbarer Genauigkeit den dunklen
und den bewußteren Anteil im Kunstwerk be-
stimmt. Aus dem Urschoß, aus dem Leben im
Künstler geboren, erhebt sich das Geschöpf. Es
ist zunächst reiner Trieb, ganz animalisch, wie
nur irgend etwas Neugeborenes im Tier- oder
Pflanzenreich, und gibt allen denen Recht, die
am Kunstwerk das Irrationale betonen. Aber als-
bald wird an ihm der wählende, abgrenzende,
gerüstgebende Geist wirksam und tut an dem
neuen Wesen so außerordentlich viel, daß dessen
schließliche Existenz weitgehend als sein Werk
erscheint; womit diejenigen Recht bekommen,
die den Anteil der bewußten Geistkräfte in den
Vordergrund stellen. Die Wirklichkeit liegt genau
in der Mitte: das Kunstwerk ist ein lebendes
Wesen, und wie jedes lebende Wesen hat es
zwei Eltern. Das Leben, die Natur ist seine
Mutter, und Vater ist ihm der Geist. ... w. m.
 
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