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Deutsche Kunst und Dekoration: illustr. Monatshefte für moderne Malerei, Plastik, Architektur, Wohnungskunst u. künstlerisches Frauen-Arbeiten — 69.1931-1932

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Schülein, Julius Wolfgang: Richtung des künstlerischen Wollens
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https://doi.org/10.11588/diglit.7203#0291

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283

GEORG KOLBE-BERLIN

»MARMOR-RELIEF« 1913

RICHTUNG DES KÜNSTLERISCHEN WOLLENS

VON J. W. SCHÜLEIN

Wir alle empfinden, was Kitsch ist und doch
können wir nicht ohne weiteres den
Unterschied zwischen Kunst und Kitsch er-
klären. Kitsch ist keineswegs gleichbedeutend
mit schlechter Kunst. Es gibt Werke in Lite-
ratur und Kunst, die schlechtes Handwerk, die
dilettantisch, die unkünstlerisch sind, ohne je-
doch das zu sein, was wir Kitsch nennen. Und
ein Werk, das wir als Kitsch bezeichnen, kann
sehr gutes Handwerk sein.

Der Unterschied zwischen Kitsch und Kunst
liegt in der verschiedenen Richtung des künst-
lerischen Wollens.

Wie das Kind in seinen Spielen sich über die
Wirklichkeit hinwegphantasiert, so sucht der
Erwachsene, schaffend oder aufnehmend, in
den Werken der Kunst — Kunst im weitesten
Sinne — die Realität zu überwinden. Der Kitsch
bleibt hiebei in dieser Wirklichkeit und stellt
sie dar gemäß unseren Wunschphantasien;
denn wohl alle Menschen haben im geheimen
ihre Tagträume, ihre Wunschphantasien von

Erotik, von Erfolg und dergleichen. Ihnen
kommt der Kitsch entgegen mit seinen Ge-
schichten von vielbegehrten Frauen und Män-
nern, seinen am Ende erfolgreichen Helden, mit
seinen Bildern von verführerischen Mädchen,
unschuldigen Kindern oder rührender Armut.

Den Kitsch ausrotten zu wollen, ist intel-
lektuelle Pedanterie. Die Vielen, die keinen Zu-
gang zur Kunst finden können, suchen den
Kitsch, der ihnen die Möglichkeit gibt, sich
über die Wirklichkeit hinwegzuträumen, ein
Bedürfnis, das die Mehrzahl der Filme am weit-
gehendsten befriedigt.

Freilich als Kunst soll sich der Kitsch nicht
gebärden. Die Kunst gibt mehr, sie sucht Über-
windung der Wirklichkeit auf eine kühnere,
radikalere Weise, indem sie uns von ihr erlöst.
Wenn der Kitsch eine Wirklichkeit gemäß
unseren persönlichen Wünschen vor uns er-
stehen läßt, erbaut die Kunst eine neue Welt
zweckbefreiter Formen, ewiger Gesetze, in der
keine persönlichen Interessen herrschen ... -
 
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