DAS JÜNGSTE GERICHT« IM CAMPO SANTO ZU PISA.
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heftigen Angriffen bot, auch mit den Mitteln feiner Kunft hat rügen wollen;
hierher gehört auch die Darflellung in der linken Ecke der ))Hölle« in Sta. Maria
Novella, wo ein Teufel einen Mönch an den Ohren ergriffen hat.
Aber nicht nur wegen der wahrfcheinlichen Aehnlichkeit der untergegangenen
Fresken Orcagna's in Sta. Croce mit den Bildern in Pifa nehme ich einen Zufam-
menhang der letzteren mit Orcagnab Kunft an, fondern auch wegen der Ueber-
einftimmung gewiffer Compohtionsmotive der Wandmalereien im Campo fanto mit
fblchen in der Strozzi-Capelle.
Doch gehen wir nun an die Betrachtung der berühmten Gemälde felbft.
Ohne hch einer Uebertreibung fchuldig zu machen, darf man wohl behaupten,
es fei aus dem Mittelalter keine andere Darftellung des Bjüngften Gerichtes« auf
uns gekommen, welche in lo erlchütternder Weife die mit der Idee deffelben ver-
knüpfte Vorftellung vom erbarmungslofen ßzu fpät« wiedergäbe, wie das Bild in Pifa.
Hatte Chriftus noch in dem Bilde Orcagna's in Sta. Maria Novella, hatte er
bei Giotto in Padua und an der Kanzel NiccoloG in Pifa einen Blick oder eine
Handbewegung für die Seligen, war diefes getheilte Verhalten des Weltenrichters
in den älteren byzantinifchen oder byzantinihrenden Bildern, wie z. B. dem njüngften
Gerichte« in S. Angelo in Formis oder demjenigen im Dome von Torcello, immer
wieder anzutreffen und ift es auch in dem Malerbuche vom Berge Athos vorge-
fchrieben, fb gilt hier Blick, Haltung und Bewegung des in einer Mandorla thro-
nenden Chriftus nur den verlorenen Seelen. Mit einem mächtigen Griff der durch-
bohrten linken Hand hat er die Seitenwunde entblöfst, die rechte erhebt er und
hält fb auch das Wundmal an der innern Fläche derfelben den Verdammten ent-
gegen. Zugleich macht diele Bewegung den Eindruck des Drohens, des Zurückfchleu-
derns, ein Motiv, das Michelangelo für fein Bjüngftes Gericht« adoptirte, vor ihm aber
auch fchon Fiefole und Fra Bartolommeo in ihre Schilderungen diefes Gegenftandes
aufgenommen hatten. Vergleichen wir den Chriftus des pifaner Bildes mit dem-
jenigen der Strozzi-Capelle, fb ergiebt fleh uns die Wahrnehmung, dafs erfterer
nichts von der an ihrer Stelle hervorgehobenen Wehmuth des letzteren hat, fon-
dern gänzlich von Zorn bewegt erfcheint. Der Gram über das Loos der Elenden
fpiegelt hch im pifaner Bilde in der in liebenswürdigfter Sanftmuth neben Chriftus
innerhalb einer zweiten Mandorla thronenden Maria und in den Köpfen und
Stellungen derjenigen der zu den Seiten der beiden Hauptgeftalten auf Wolken
angeordneten Apoftel, welche mitleidig zu den Verdammten hinabblicken.
Unterhalb der beiden Mandorlen, etwa in der Mitte des Bildes, fehen wir
jene berühmte Gruppe der vier Engel vor uns, von denen der oberfte, gramerfüllte,
welcher trefflich in den Zwifchenraum der beiden Mandorlen hineincomponirt ift,
die Schriftrollen mit dem Belohnungs- und dem Verdammungsurtheil hält, die
beiden mittleren, in ihrer fliegenden Bewegung einander entfprechenden, in die
mächtigen Pofaunen ftofsen, der untere aber auf der Wolke niedergekauert ift
und mit feiner Hand den Mund bedeckt als fröre ihn. Entfetzen lefen wir in
feinen Zügen, eine genial erdachte Perfonihcation der Grundftimmung des Ge-
mäldes! Es dürfte nicht zufällig fein, dafs die Silhouette diefer Engelgruppe die
Form des Kreuzes hat. An diefer Stelle älterer Bilder des njüngften Gerichtes«
pflegte ein mächtiges Kreuz hch zu befinden; fb bei Giotto, fb bei Niccolo Pifano.
Die beiden Pofaunenbläfer erinnern lebhaft an die entfprechenden Figuren des
yjüngften Gerichtes« in Sta. Maria Novella.
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heftigen Angriffen bot, auch mit den Mitteln feiner Kunft hat rügen wollen;
hierher gehört auch die Darflellung in der linken Ecke der ))Hölle« in Sta. Maria
Novella, wo ein Teufel einen Mönch an den Ohren ergriffen hat.
Aber nicht nur wegen der wahrfcheinlichen Aehnlichkeit der untergegangenen
Fresken Orcagna's in Sta. Croce mit den Bildern in Pifa nehme ich einen Zufam-
menhang der letzteren mit Orcagnab Kunft an, fondern auch wegen der Ueber-
einftimmung gewiffer Compohtionsmotive der Wandmalereien im Campo fanto mit
fblchen in der Strozzi-Capelle.
Doch gehen wir nun an die Betrachtung der berühmten Gemälde felbft.
Ohne hch einer Uebertreibung fchuldig zu machen, darf man wohl behaupten,
es fei aus dem Mittelalter keine andere Darftellung des Bjüngften Gerichtes« auf
uns gekommen, welche in lo erlchütternder Weife die mit der Idee deffelben ver-
knüpfte Vorftellung vom erbarmungslofen ßzu fpät« wiedergäbe, wie das Bild in Pifa.
Hatte Chriftus noch in dem Bilde Orcagna's in Sta. Maria Novella, hatte er
bei Giotto in Padua und an der Kanzel NiccoloG in Pifa einen Blick oder eine
Handbewegung für die Seligen, war diefes getheilte Verhalten des Weltenrichters
in den älteren byzantinifchen oder byzantinihrenden Bildern, wie z. B. dem njüngften
Gerichte« in S. Angelo in Formis oder demjenigen im Dome von Torcello, immer
wieder anzutreffen und ift es auch in dem Malerbuche vom Berge Athos vorge-
fchrieben, fb gilt hier Blick, Haltung und Bewegung des in einer Mandorla thro-
nenden Chriftus nur den verlorenen Seelen. Mit einem mächtigen Griff der durch-
bohrten linken Hand hat er die Seitenwunde entblöfst, die rechte erhebt er und
hält fb auch das Wundmal an der innern Fläche derfelben den Verdammten ent-
gegen. Zugleich macht diele Bewegung den Eindruck des Drohens, des Zurückfchleu-
derns, ein Motiv, das Michelangelo für fein Bjüngftes Gericht« adoptirte, vor ihm aber
auch fchon Fiefole und Fra Bartolommeo in ihre Schilderungen diefes Gegenftandes
aufgenommen hatten. Vergleichen wir den Chriftus des pifaner Bildes mit dem-
jenigen der Strozzi-Capelle, fb ergiebt fleh uns die Wahrnehmung, dafs erfterer
nichts von der an ihrer Stelle hervorgehobenen Wehmuth des letzteren hat, fon-
dern gänzlich von Zorn bewegt erfcheint. Der Gram über das Loos der Elenden
fpiegelt hch im pifaner Bilde in der in liebenswürdigfter Sanftmuth neben Chriftus
innerhalb einer zweiten Mandorla thronenden Maria und in den Köpfen und
Stellungen derjenigen der zu den Seiten der beiden Hauptgeftalten auf Wolken
angeordneten Apoftel, welche mitleidig zu den Verdammten hinabblicken.
Unterhalb der beiden Mandorlen, etwa in der Mitte des Bildes, fehen wir
jene berühmte Gruppe der vier Engel vor uns, von denen der oberfte, gramerfüllte,
welcher trefflich in den Zwifchenraum der beiden Mandorlen hineincomponirt ift,
die Schriftrollen mit dem Belohnungs- und dem Verdammungsurtheil hält, die
beiden mittleren, in ihrer fliegenden Bewegung einander entfprechenden, in die
mächtigen Pofaunen ftofsen, der untere aber auf der Wolke niedergekauert ift
und mit feiner Hand den Mund bedeckt als fröre ihn. Entfetzen lefen wir in
feinen Zügen, eine genial erdachte Perfonihcation der Grundftimmung des Ge-
mäldes! Es dürfte nicht zufällig fein, dafs die Silhouette diefer Engelgruppe die
Form des Kreuzes hat. An diefer Stelle älterer Bilder des njüngften Gerichtes«
pflegte ein mächtiges Kreuz hch zu befinden; fb bei Giotto, fb bei Niccolo Pifano.
Die beiden Pofaunenbläfer erinnern lebhaft an die entfprechenden Figuren des
yjüngften Gerichtes« in Sta. Maria Novella.
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