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Die Form: Zeitschrift für gestaltende Arbeit — 1.1922

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Heuss, Theodor: Stil und Gegenwart
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https://doi.org/10.11588/diglit.17995#0021

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DIE FORM/MONATSSCHRIFT FÜR GESTALTENDE ARBEIT
So kann große Kunst nicht bloße Werkstatterfindung sein. Die gotischen Kathedralen sind nicht aus
Bauhüttengeheimnissen in die Luft emporgewachsen; diese Luft selber war voll gotischer Gedanken
und Empfindungen. Die Kraft und Bewegtheit des Barock ist kein Erlebnis des Zeichentisches, sondern
einer Zeit, für die die tätige, weitausgreifende Machtleidenschaft des großen Kurfürsten, des vierzehnten
Ludwig, des Prinzen Eugen Selbstdarstellung und Symbol wurde.
Wie ist es um unsere Zeit bestellt?
Daß das abgelaufene Jahrhundert, und nicht erst unsere Tage, so mannigfaltig und leidenschaftlich
um das Stilproblem sich mühte, ist die literarische Verbrämung eines Grundgefühls der Leere. Die
Gebundenheit des Zeitgefühls zerbrach, aus tausend Gründen der Politik und Ökonomik, der sozialen
Schichtung und des Gangs der Wissenschaften, und Worte sollten die Scherben beschwören. Waren schon
die objektiven Tatbestände schwierig und verwickelt genug, so wurde die subjektive Haltung der Men-
schen zu ihnen zu Tode reflektiert. Die naive Sinnlichkeit des Schaffens schien so abgestorben wie die
des Schauens. Und neben der selbstzufriedenen Philistersicherheit, die die eigene Zeit als aller Zeiten
Höhe empfindet und es immer herrlich weit gebracht hat (die Siegesallee nach des Kaisers Meinung
eine Parallele zur Florentiner Renaissance), jene grollende Anklagestimmung, die den Blick für Gutes
und Kräftiges verloren hat, die es nicht sehen darf, weil der Intellekt ihr bewiesen hat, daß diese Kultur,
nein diese Zivilisation zur Unfruchtbarkeit, zum künstlerischen Untergang bestimmt ist.
Es gibt objektive Tatbestände, die einer Epoche das Gepräge geben: die zentrale Stellung des kirch-
lichen Denkens, die soziale Stufung und Gesinnung lehensmäßiger Feudalität, den Vorstoß des macht-
zentralisierenden Fürstentums, die Demokratie und den Industrialismus. Wenn man Kunstprobleme
mit solcher Reihe in Verbindung bringt, soll man vorsichtig sein und sicher nicht keck behaupten, wie
hier Ursache und Wirkung verschlungen seien; jedoch ist ohne weiteres klar, daß es sich weithin um
Spiegelungen handelt. Und dann offenbart sich die Spannung unserer Zeit: Demokratie als Willensbe-
wegung der Masse, Kunst im schöpferischen Akt immer von einem durchaus aristokratischen Element
durchsetzt, Industrialismus, die Herrschaft des Berechenbaren und Berechneten in Ökonomie und Tech-
nik, Kunst letztlich aus dem Irrationalen gespeist, soviel gliedernde Gedanken auch ihr Wesen zu syste-
matisieren, zu „erklären“ suchen. Indem man den Konflikt ausspricht, verscheucht man die Romantik
und verzichtet darauf, die Gegebenheiten zu bejammern. Man erkennt aber vielleicht auch das Positive:
daß aus dem Industrialismus, wenn man nur ihn sich auswirken läßt, ohne seine eingeborene Gesetz-
lichkeit abdrosseln oder verschleiern zu wollen, zwangsläufig ein eigener Formcharakter fließt, den man
nur nicht als modischen Formvorrat begreifen und „verwerten“ darf (hier liegen Irrtümer van de Veldes
und mancher seiner Schüler); daß die Demokratie als Politisches nicht ein Letztes ist und erst dann
ihre historische Bestätigung erreicht, wenn sie die Stufe zum einheitlichen, verantwortlichen Volks-
gefühl wird. Beide Fragen sind im Grunde ethisch bestimmt, Angelegenheiten der sachlichen Wahr-
haftigkeit. Die Dinge der politischen Formwahl sind historische Bedingtheiten oder Sache der Zweck-
mäßigkeit und haben unmittelbar mit dem Leben der Kunst nichts zu tun.
Die volkswirtschaftliche Entwicklung, ihr Ziel und ihr Rhythmus, ihr Zusammenhang mit der gesell-
schaftlichen Schichtung ist einigermaßen bestimmend; gleichviel ob man sie für sozusagen technisch
eigengesetzlich oder als das Ergebnis, die Auswirkung bestimmter menschlicher Gesinnungen betrachtet.
Ihr Weg ist heute weniger als je sicher zu übersehen. Immerhin scheint deutlich, daß der Gang der
mechanischen Rationalisierung im ganzen, wenn nicht abgeschritten, so doch in seinen Grenzen sicht-
bar ist; das Problem, der Industrie liegt vor allem in der ökonomischen Rationalisierung. Dadurch ist
das Handwerk wieder seines Eigenwertes bewußter geworden und aus der bloßen Abwehrstellung der

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