DIE FORM / MONATSSCHRIFT FÜR GESTALTENDE ARBEIT
Das evangelische Kirchbauprogramm
von Otto Bartning
T Ä7er das Bauprogramm einer evangelischen Kirche aufstellen will, muß eine klare Antwort geben
’ * auf die Frage: was ist eine evangelische Kirche, welches ist ihr praktischer Zweck, und: ist mit
Befriedigung dieses Zweckes die Bauabsicht ohne Rest erfüllt?
Luther hat in seiner Torgauer Einweihungsrede eine Antwort gegeben: die Kirche ist Versamm-
lungsraum der Gemeinde zum Hören der Predigt; Zweck des Bauens ist, die Predigtversammlung, die
an sich vogelfrei ist, zu beherbergen. Die Antwort ist eindeutig. Sie ist daher auch Ausgangspunkt einer
ziemlich geradlinigen Entwicklung geworden bis zu dem 1906 aufgestellten sog. Wiesbadener Pro-
gramm und hat in den letzten zwei Jahrzehnten zu eindeutigen Lösungen der „Predigtkirche“, der
„Saalkirche“ und des „Gemeindehauses“ geführt. Die künstlerisch harmonische, stimmungsvolle Ge-
staltung dieser Lösungen ist das Ziel, über das diese Aufgabestellung aus sich heraus zunächst nicht
hinausführen kann und will. Wenn dabei die „Versammlung am Brunnen“ und das „Gebet im Käm-
merlein“ gleichgeachtet sind der Zusammenkunft in der Kirche, so wird damit sowohl der Kirchgang
wie der Kirchbau relativ bewertet, und es darf nicht Wunder nehmen, wenn der Eifer des Kirch-
gängers und diekünstlerischeWillensspannung des Kirchbauers sich zu keiner absoluten Leistung verbinden.
Die eingangs gestellte Frage ist aber auch anders und weitergehend beantwortet worden, und zwar:
Zweck des Bauens ist allerdings die Versammlung der Gemeinde; das gemeinsame Hören der Pre-
digt und das gemeinsame Gebet und Abendmahl vollzieht sich aber nicht nur praktisch einfacher in
der Kirche, sondern es ist auch stärker als das Lesen und Beten des Einzelnen; kurz die Gemeinschaft
der Beter ist nicht nur eine Addition, sondern eine Potenz der Seelen. Der Kirchbau soll nun nicht
mehr nur zweckmäßiges Gehäuse, sondern Ausdruck dieser Potenz sein; das Bauen der Kirche wird
über die praktische Not hinaus eine Darbringung, eine Opfertat der Betergemeinschaft; der Künstler
als Vollstrecker des Gemeinschaftswillens kann von ihm zur höheren, überindividuellen Leistung ge-
tragen werden; die relative Bauaufgabe wird absoluter.
Diese Auffassung der Kirche und der Kirchbau-Aufgabe erweist sich da und dort in der evangeli-
schen Baugeschichte wirksam, ohne aber eine ununterbrochene Entwicklungslinie zu zeigen, wie sie
jener Torgauer Definition entspringt. Ja, der auf jene Definition sich berufende rationale Protestantis-
mus bekämpft oft die Auffassung von der Gemeinschaftspotenz um ihres irrationalen Überschusses
willen, obwohl gerade dieser Überschuß die wahre Ergänzung des rationalen Protestantismus ist oder
sein könnte. Das Abendmahl ist innerhalb dieser Auffassung als das sichtbare Zeichen der Gemeinschaft
anzusprechen. Die Verkündigung des geoffenbarten Wortes (allerdings nicht die individuell-geistvolle
Kanzelrede) steht ihm gleichwertig gegenüber: Altar und Kanzel sind in diesem zweiten Bauprogramm
gleichwertig.
Darüber hinaus gibt es auf die von uns gestellte Frage eine dritte Antwort, die das Altarsakrament
nicht nur als Zeichen, sondern als mystisch-realen Vollzug der Gemeinschaft und damit als den unver-
gleichlichen Höhepunkt des Religionslebens und des Kultes ansieht. Sie nähert sich damit den Voraus-
setzungen, die einen Sakralbau im Sinne des Wortes denkbar machen.
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Das evangelische Kirchbauprogramm
von Otto Bartning
T Ä7er das Bauprogramm einer evangelischen Kirche aufstellen will, muß eine klare Antwort geben
’ * auf die Frage: was ist eine evangelische Kirche, welches ist ihr praktischer Zweck, und: ist mit
Befriedigung dieses Zweckes die Bauabsicht ohne Rest erfüllt?
Luther hat in seiner Torgauer Einweihungsrede eine Antwort gegeben: die Kirche ist Versamm-
lungsraum der Gemeinde zum Hören der Predigt; Zweck des Bauens ist, die Predigtversammlung, die
an sich vogelfrei ist, zu beherbergen. Die Antwort ist eindeutig. Sie ist daher auch Ausgangspunkt einer
ziemlich geradlinigen Entwicklung geworden bis zu dem 1906 aufgestellten sog. Wiesbadener Pro-
gramm und hat in den letzten zwei Jahrzehnten zu eindeutigen Lösungen der „Predigtkirche“, der
„Saalkirche“ und des „Gemeindehauses“ geführt. Die künstlerisch harmonische, stimmungsvolle Ge-
staltung dieser Lösungen ist das Ziel, über das diese Aufgabestellung aus sich heraus zunächst nicht
hinausführen kann und will. Wenn dabei die „Versammlung am Brunnen“ und das „Gebet im Käm-
merlein“ gleichgeachtet sind der Zusammenkunft in der Kirche, so wird damit sowohl der Kirchgang
wie der Kirchbau relativ bewertet, und es darf nicht Wunder nehmen, wenn der Eifer des Kirch-
gängers und diekünstlerischeWillensspannung des Kirchbauers sich zu keiner absoluten Leistung verbinden.
Die eingangs gestellte Frage ist aber auch anders und weitergehend beantwortet worden, und zwar:
Zweck des Bauens ist allerdings die Versammlung der Gemeinde; das gemeinsame Hören der Pre-
digt und das gemeinsame Gebet und Abendmahl vollzieht sich aber nicht nur praktisch einfacher in
der Kirche, sondern es ist auch stärker als das Lesen und Beten des Einzelnen; kurz die Gemeinschaft
der Beter ist nicht nur eine Addition, sondern eine Potenz der Seelen. Der Kirchbau soll nun nicht
mehr nur zweckmäßiges Gehäuse, sondern Ausdruck dieser Potenz sein; das Bauen der Kirche wird
über die praktische Not hinaus eine Darbringung, eine Opfertat der Betergemeinschaft; der Künstler
als Vollstrecker des Gemeinschaftswillens kann von ihm zur höheren, überindividuellen Leistung ge-
tragen werden; die relative Bauaufgabe wird absoluter.
Diese Auffassung der Kirche und der Kirchbau-Aufgabe erweist sich da und dort in der evangeli-
schen Baugeschichte wirksam, ohne aber eine ununterbrochene Entwicklungslinie zu zeigen, wie sie
jener Torgauer Definition entspringt. Ja, der auf jene Definition sich berufende rationale Protestantis-
mus bekämpft oft die Auffassung von der Gemeinschaftspotenz um ihres irrationalen Überschusses
willen, obwohl gerade dieser Überschuß die wahre Ergänzung des rationalen Protestantismus ist oder
sein könnte. Das Abendmahl ist innerhalb dieser Auffassung als das sichtbare Zeichen der Gemeinschaft
anzusprechen. Die Verkündigung des geoffenbarten Wortes (allerdings nicht die individuell-geistvolle
Kanzelrede) steht ihm gleichwertig gegenüber: Altar und Kanzel sind in diesem zweiten Bauprogramm
gleichwertig.
Darüber hinaus gibt es auf die von uns gestellte Frage eine dritte Antwort, die das Altarsakrament
nicht nur als Zeichen, sondern als mystisch-realen Vollzug der Gemeinschaft und damit als den unver-
gleichlichen Höhepunkt des Religionslebens und des Kultes ansieht. Sie nähert sich damit den Voraus-
setzungen, die einen Sakralbau im Sinne des Wortes denkbar machen.
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