DIE FORM/MONATSSCHRIFT FÜR GESTALTENDE ARBEIT
werden sich gegenseitig steigern und beschränken zugleich., und wir werden nicht mehr verstehen, was
das mißgestaltete Wort Kunstgewerbe bedeuten sollte.
Nur durch Teilnahme am Gesamtinhalt unseres Welterlebens werden wir schaffend erst den Begriff
einer anderen höheren Wirklichkeit hinstellen können, wie das Leben selbst auch nur durch die Gemein-
samkeit aller unserer Sinne voll erfaßt wird.
Zur Frage des Zeitstiles
von Richard Riemerschmid
Der Begriff Stil ist nicht mehr deutlich umrissen und es ist nicht überflüssig, vor allem andern erst
einmal darüber sich auseinanderzusetzen, was denn unter dem Wort verstanden werden soll.
Stil — überall und so auch in der bildenden Kunst — ist eine Lebensäußerung, die nicht unterdrückt
und nicht herbeigeführt werden kann. Sie kann nicht unterdrückt werden, ohne zugleich das Leben zu
unterdrücken, sie kann nicht künstlich herbeigeführt werden, so wenig wie das Leben selbst. Kein Volk,
keine Zeit kann wohnen, sich kleiden, Götter oder Menschen ehren, ohne zu bauen, Handwerk zu treiben,
allem, was sie hervorbringt, weil sie es braucht oder zu brauchen glaubt, irgend eine sichtbare Form zu
geben. Es kann nicht ausbleiben, daß sich dann treulich die Gesinnung, die Lebensanschauung, welche
die Formen gewählt hat, in der Folge der Erscheinungen spiegelt. Und dieses Spiegelbild ist Stil. Nicht
die Kunst schafft den Stil, das Leben schafft ihn. Er wird nicht gemacht, er wächst. Nur in Zeiten, die
sich der Kunst entfremdet haben, versuchen die „Künstler“ Stil zu machen und zu „stilisieren“.
Daß überhaupt die Meinung herrschend werden konnte, es habe zwar in früheren Zeiten jede Epoche
ihren Stil ausgebildet, dagegen unsere Zeit habe diese Fähigkeit eingebüßt, scheint mir zu beweisen, daß
das Wesen des Stils verkannt worden ist; deshalb mußten wir auch die alten Stile gründlich mißverstehen
und zu der merkwürdigen Meinung gelangen, ein Stil könne in allem Ernst nachgeahmt oder zurückgeführt
werden. Ebenso wie positive kann ein Stil auch negative Eigenschaften haben; in beiden Fällen bedeutet
er eben die Art, wie sich eine bestimmte Zeit und eine bestimmte Volksgemeinschaft im Reich des
Sichtbaren ausdrückt, oder, wenn man die Sache von der andern Seite her anschauen will, die Art, wie
eine Folge sichtbarer Formen das Wesen einer Zeit kennzeichnet, es kann sein als groß und edel, es
kann aber auch sein als verdorben und verlogen oder als unreif und verkümmert. So darf also auch die
Frage, ob es für unsere Gegenwart einen Stil schon gibt, oder ob er in naher oder ferner Zukunft ent-
stehen kann, als nicht gut gestellt bei Seite geschoben werden und zunächst einmal gefragt werden,
was die Formen, die wir hervorbringen, von unserm Wesen aussagen: ich fürchte, die Städte und Straßen,
die wir hinstellen, die Mieträume, in denen wir wohnen, das Gerät, das wir benützen, — wir alle, das
ganze Volk, nicht Einzelne unter uns — die Geschenke, die wir uns machen, die Dinge, die wir Kunst
nennen, sie sagen aus: „Eine gemeine Gesellschaft!“ Nur auf einigen Gebieten, gerade solchen, auf denen
die Form nicht aus bewußter Absicht, sondern einfach als Ergebnis auftritt, Schiffahrt, Flugwesen^
Maschinenwesen, technische Bauten, läßt sich deutlich vernehmen: „Es stecken aber doch noch große
Eigenschaften und Fähigkeiten dahinter“. Hier nämlich tauchen Formen auf, die straff, hart, sicher, ohne
Umständlichkeit, die besten Eigenschaften unserer Zeit spiegeln. Eine'seltsame Lage! Gerade da, wo die
„Künstler“ nicht tätig sind, da erwachsen die rühmlichsten Formen der Zeit, auf den Werften, in Werk-
zeugfabriken z. B. und genau da, wo die „Künstler“, die etwa hinzugezogen werden, einsetzen, um zu
„verschönern“, finden sich oft, meistens sogar, die schmählichen Formen dazu. Weil uns nämlich der
Begriff Stil unverständlich geworden war, haben wir auch die Bezeichnung Künstler und Kunst miß-
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werden sich gegenseitig steigern und beschränken zugleich., und wir werden nicht mehr verstehen, was
das mißgestaltete Wort Kunstgewerbe bedeuten sollte.
Nur durch Teilnahme am Gesamtinhalt unseres Welterlebens werden wir schaffend erst den Begriff
einer anderen höheren Wirklichkeit hinstellen können, wie das Leben selbst auch nur durch die Gemein-
samkeit aller unserer Sinne voll erfaßt wird.
Zur Frage des Zeitstiles
von Richard Riemerschmid
Der Begriff Stil ist nicht mehr deutlich umrissen und es ist nicht überflüssig, vor allem andern erst
einmal darüber sich auseinanderzusetzen, was denn unter dem Wort verstanden werden soll.
Stil — überall und so auch in der bildenden Kunst — ist eine Lebensäußerung, die nicht unterdrückt
und nicht herbeigeführt werden kann. Sie kann nicht unterdrückt werden, ohne zugleich das Leben zu
unterdrücken, sie kann nicht künstlich herbeigeführt werden, so wenig wie das Leben selbst. Kein Volk,
keine Zeit kann wohnen, sich kleiden, Götter oder Menschen ehren, ohne zu bauen, Handwerk zu treiben,
allem, was sie hervorbringt, weil sie es braucht oder zu brauchen glaubt, irgend eine sichtbare Form zu
geben. Es kann nicht ausbleiben, daß sich dann treulich die Gesinnung, die Lebensanschauung, welche
die Formen gewählt hat, in der Folge der Erscheinungen spiegelt. Und dieses Spiegelbild ist Stil. Nicht
die Kunst schafft den Stil, das Leben schafft ihn. Er wird nicht gemacht, er wächst. Nur in Zeiten, die
sich der Kunst entfremdet haben, versuchen die „Künstler“ Stil zu machen und zu „stilisieren“.
Daß überhaupt die Meinung herrschend werden konnte, es habe zwar in früheren Zeiten jede Epoche
ihren Stil ausgebildet, dagegen unsere Zeit habe diese Fähigkeit eingebüßt, scheint mir zu beweisen, daß
das Wesen des Stils verkannt worden ist; deshalb mußten wir auch die alten Stile gründlich mißverstehen
und zu der merkwürdigen Meinung gelangen, ein Stil könne in allem Ernst nachgeahmt oder zurückgeführt
werden. Ebenso wie positive kann ein Stil auch negative Eigenschaften haben; in beiden Fällen bedeutet
er eben die Art, wie sich eine bestimmte Zeit und eine bestimmte Volksgemeinschaft im Reich des
Sichtbaren ausdrückt, oder, wenn man die Sache von der andern Seite her anschauen will, die Art, wie
eine Folge sichtbarer Formen das Wesen einer Zeit kennzeichnet, es kann sein als groß und edel, es
kann aber auch sein als verdorben und verlogen oder als unreif und verkümmert. So darf also auch die
Frage, ob es für unsere Gegenwart einen Stil schon gibt, oder ob er in naher oder ferner Zukunft ent-
stehen kann, als nicht gut gestellt bei Seite geschoben werden und zunächst einmal gefragt werden,
was die Formen, die wir hervorbringen, von unserm Wesen aussagen: ich fürchte, die Städte und Straßen,
die wir hinstellen, die Mieträume, in denen wir wohnen, das Gerät, das wir benützen, — wir alle, das
ganze Volk, nicht Einzelne unter uns — die Geschenke, die wir uns machen, die Dinge, die wir Kunst
nennen, sie sagen aus: „Eine gemeine Gesellschaft!“ Nur auf einigen Gebieten, gerade solchen, auf denen
die Form nicht aus bewußter Absicht, sondern einfach als Ergebnis auftritt, Schiffahrt, Flugwesen^
Maschinenwesen, technische Bauten, läßt sich deutlich vernehmen: „Es stecken aber doch noch große
Eigenschaften und Fähigkeiten dahinter“. Hier nämlich tauchen Formen auf, die straff, hart, sicher, ohne
Umständlichkeit, die besten Eigenschaften unserer Zeit spiegeln. Eine'seltsame Lage! Gerade da, wo die
„Künstler“ nicht tätig sind, da erwachsen die rühmlichsten Formen der Zeit, auf den Werften, in Werk-
zeugfabriken z. B. und genau da, wo die „Künstler“, die etwa hinzugezogen werden, einsetzen, um zu
„verschönern“, finden sich oft, meistens sogar, die schmählichen Formen dazu. Weil uns nämlich der
Begriff Stil unverständlich geworden war, haben wir auch die Bezeichnung Künstler und Kunst miß-
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