DIE FORM/MONATSSGHRIFT FÜR GESTALTENDE ARBEIT
Und ich sah Baugebilde, vom Erdboden bis zum First wachsend, von einem zum anderen Ende schwin-
gend, von innen nach außen strahlend ; Raum aus Raum frei sich hervorbewegend, Körper auf Körper
treibend, stoßend, steigend. Bewegung, aber nicht durch Wachstumsformen hoher pflanzlicher Organis-
men symbolisiert, sondern ausgewirkt in voraussetzungslos einfachen, einfältigen Formen. Die Winkel
und Kurven der Grundrisse und Konstruktionen, der farbige Atem der Wände zeigte denselben Drang
nach Ausdruck des sich aus sich selbst heraus bewegenden Willens, des leidenschaftlich en Werdens, nicht
so sehr des schön in sich ruhenden Seins.
Beide Strebungen haben sich in Holland zu getrennten Richtungen verhärtet, haben sich um zwei
feindliche Zeitschriften theoretisch geschart. Die Bewegten schelten die anderen leblos, starr, mathe-
matisch-industriell, verkappt akademisch. Diese aber schelten jene barock, willkürlich, individualistisch,
handwerks-romantisch. Und die unnatürliche Trennung rechtfertigt beiderlei Vorwürfe. Es zeigt sich,
wie „Richtungen“ oft Durchgangsphasen voreilig zu Stilen verfestigen, wie sie das Runde in Scheiben
spalten.
Das Lebendige aber ist rund und allseitig. Und der Formwille, der uns unwiderstehlich treibt, ist
lebendig. Er will das einfache Raumelement formen, er will die Raumelemente zueinander und aus-
einander dynamisch bewegen, nicht aber willkürlich und individualistisch-wüst, sondern nach dem urein-
fachen Gesetz rhythmischer Bewegung und dem ureinfältigen Gebot des Handwerks. Und kein Chaos, kein
Kleinglaube, kein Widerstand und kein Weihrauch, kein Vorurteil und keine Richtung möge uns hin-
dern, hierzu durchzudringen.
So, glaube ich, müssen wir uns hüten vor der Frage nach dem Zeitstil, und müssen Herz und Sinne
offen halten für Menschen und Werke, in denen aus dem Chaos das Ureinfache wächst, der nach bewe-
gendem Willen sich ordnende Stoff Gestalt wird. Sie werden uns das Chaos der Zeit und das Vielerlei
der Künste — nicht definieren, aber deuten.
Stil und Gegenwart
von Theodor Heuss
Oti] ist Gebundenheit. Auch die lockerste Vielheit an Farbwitz und Formspiel etwa in einer der großen
^oberschwäbischen Rokoko-Kirchen ist von einem Willen gemeistert. Viele Hände und Köpfe haben an
ihnen gearbeitet, Baumeister, Bildhauer, Schnitzer, Stukkateure, Maler, mancherlei Herkunft und Schule,
selbst wechselnder Nationalität, und doch klingen die vielen Stimmen, die vielen Stoffe, die vielen Formen
zu einem Akkord zusammen. Deshalb, weil die Schaffenden vom gleichen Lebensgefühl in ihrem Innern
bestimmt sind.
Als unsere Zeit begann, ihren Stil als „stillos“, als zerspalten, zerrissen, durch Zufälligkeiten verunklart
zu empfinden, gab es eine Hilfskonstruktion, um diese Einheit, deren Mangel man sah, zu erzwingen.
War sie nicht im Bewußtsein einer Zeit oder auch nur einer Gemeinschaft vorhanden, so doch in der
Persönlichkeit des Künstlers, des einen, der seine Art und Formkraft in allem ausdrücken sollte. Gab es
nicht das grandiose Beispiel des Michel Angelo? Aber dies, daß etwa die Totalität eines Hauses völlig
aus der einen Hand entstand, war schließlich doch nur Surrogat, führte zur Gefahr von Allerwelts-
geschicklichkeit und Papierentwurf, dem man doch entfliehen wollte, im besten Fall zu geistreichem
Subjektivismus, wenn die Einfälle für den Vorrat der Forderungen reichten — aber eben in diesem Sub-
jektivismus, der sich den Ausdruck einer ganzen Gestaltung unterwerfen will und soll, liegt doch eben
zu tiefst ein Widerspruch — denn Stil ist etwas Überpersönliches.
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Und ich sah Baugebilde, vom Erdboden bis zum First wachsend, von einem zum anderen Ende schwin-
gend, von innen nach außen strahlend ; Raum aus Raum frei sich hervorbewegend, Körper auf Körper
treibend, stoßend, steigend. Bewegung, aber nicht durch Wachstumsformen hoher pflanzlicher Organis-
men symbolisiert, sondern ausgewirkt in voraussetzungslos einfachen, einfältigen Formen. Die Winkel
und Kurven der Grundrisse und Konstruktionen, der farbige Atem der Wände zeigte denselben Drang
nach Ausdruck des sich aus sich selbst heraus bewegenden Willens, des leidenschaftlich en Werdens, nicht
so sehr des schön in sich ruhenden Seins.
Beide Strebungen haben sich in Holland zu getrennten Richtungen verhärtet, haben sich um zwei
feindliche Zeitschriften theoretisch geschart. Die Bewegten schelten die anderen leblos, starr, mathe-
matisch-industriell, verkappt akademisch. Diese aber schelten jene barock, willkürlich, individualistisch,
handwerks-romantisch. Und die unnatürliche Trennung rechtfertigt beiderlei Vorwürfe. Es zeigt sich,
wie „Richtungen“ oft Durchgangsphasen voreilig zu Stilen verfestigen, wie sie das Runde in Scheiben
spalten.
Das Lebendige aber ist rund und allseitig. Und der Formwille, der uns unwiderstehlich treibt, ist
lebendig. Er will das einfache Raumelement formen, er will die Raumelemente zueinander und aus-
einander dynamisch bewegen, nicht aber willkürlich und individualistisch-wüst, sondern nach dem urein-
fachen Gesetz rhythmischer Bewegung und dem ureinfältigen Gebot des Handwerks. Und kein Chaos, kein
Kleinglaube, kein Widerstand und kein Weihrauch, kein Vorurteil und keine Richtung möge uns hin-
dern, hierzu durchzudringen.
So, glaube ich, müssen wir uns hüten vor der Frage nach dem Zeitstil, und müssen Herz und Sinne
offen halten für Menschen und Werke, in denen aus dem Chaos das Ureinfache wächst, der nach bewe-
gendem Willen sich ordnende Stoff Gestalt wird. Sie werden uns das Chaos der Zeit und das Vielerlei
der Künste — nicht definieren, aber deuten.
Stil und Gegenwart
von Theodor Heuss
Oti] ist Gebundenheit. Auch die lockerste Vielheit an Farbwitz und Formspiel etwa in einer der großen
^oberschwäbischen Rokoko-Kirchen ist von einem Willen gemeistert. Viele Hände und Köpfe haben an
ihnen gearbeitet, Baumeister, Bildhauer, Schnitzer, Stukkateure, Maler, mancherlei Herkunft und Schule,
selbst wechselnder Nationalität, und doch klingen die vielen Stimmen, die vielen Stoffe, die vielen Formen
zu einem Akkord zusammen. Deshalb, weil die Schaffenden vom gleichen Lebensgefühl in ihrem Innern
bestimmt sind.
Als unsere Zeit begann, ihren Stil als „stillos“, als zerspalten, zerrissen, durch Zufälligkeiten verunklart
zu empfinden, gab es eine Hilfskonstruktion, um diese Einheit, deren Mangel man sah, zu erzwingen.
War sie nicht im Bewußtsein einer Zeit oder auch nur einer Gemeinschaft vorhanden, so doch in der
Persönlichkeit des Künstlers, des einen, der seine Art und Formkraft in allem ausdrücken sollte. Gab es
nicht das grandiose Beispiel des Michel Angelo? Aber dies, daß etwa die Totalität eines Hauses völlig
aus der einen Hand entstand, war schließlich doch nur Surrogat, führte zur Gefahr von Allerwelts-
geschicklichkeit und Papierentwurf, dem man doch entfliehen wollte, im besten Fall zu geistreichem
Subjektivismus, wenn die Einfälle für den Vorrat der Forderungen reichten — aber eben in diesem Sub-
jektivismus, der sich den Ausdruck einer ganzen Gestaltung unterwerfen will und soll, liegt doch eben
zu tiefst ein Widerspruch — denn Stil ist etwas Überpersönliches.
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