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Die Form: Zeitschrift für gestaltende Arbeit — 1.1922

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Riezler, Walter: Auf dem Wege zur Kunstform: Betrachtungen zur Entwicklung des Lichtspiels
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https://doi.org/10.11588/diglit.17995#0148

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DIE FORM/MONATSSGHRIFT FÜR GESTALTENDE ARBEIT
den allgemeinen Grundrichtungen der Zeit feststellen lassen muß. Damit ist aber noch nicht gesagt, daß sich
eine neue Darstellungsform, in der vielleicht die Keime einer neuen Kunstform schlummern, gleich von An-
fang an in der Richtung auf die Kunstform entwickeln muß. Es kommt hier vielmehr ganz darauf an, zu wel-
chen Zwecken die neue Errungenschaft zuerst verwendet wird, was das Volk an neuen Reizen in ihr findet
und was es infolgedessen von ihr fordert. Und da ist nun allerdings zu sagen, daß der von dem bewegten
Lichtbild ausgehende Reiz der Entwicklung zu einer neuen Kunstform nichts weniger als günstig war.
Zuerst war es der Reiz der Bewegung an sich, der fesselte, ein Reiz, der offenbar so tief in der mensch-
lichen Natur begründet ist, daß er sich auch bei langer Gewöhnung nicht abstumpft. Auch heute noch
wirkt das Lichtspiel zu einem großen Teile deshalb unterhaltend und fesselnd, weil es dem Beschauer
unaufhörliche Bewegung vor das Auge zaubert. Nach dem Sinn dieser Bewegung wird vorerst einmal
gar nicht gefragt. Es ist auch gar nicht etwa so, daß die Wirkung dieser Bewegung davon abhängt, daß
der Beschauer sie innerlich mitmacht, psychologisch gesprochen, „sich in sie einfühlt“; es ist im Gegen-
teil das vollkommen passive Verhalten des Beschauers im Lichtspiel etwas besonders Bezeichnendes.
Und nun zeigt sich schon hier die Ferne von aller anderen Kunst: jede dem Reiche der Kunst ent-
stammende Bewegung, mag sie nun wie beim ursprünglichen sakralen Tanzfest alle Teilnehmer um-
fassen oder auf späteren Entwicklungsstufen der dramatischen und tänzerischen Kunst vom Beschauer
nur aufgenommen werden, wirkt nur insofern, als sie innerlich wirklich aufgenommen und mit-
erlebt wird. Sie ist eben nichts weniger als ein bloßer Reiz, sondern die Bestätigung der lebendigen
Urkräfte der Welt, die sich in dem Urphänomen des Rhythmus äußern. Auch in der freiesten, in irgend
einer Kunst verwirklichten Bewegung ist ein Rhythmus verborgen. Der Bewegungsreiz des Lichtspiels
bedarf dieser Bindung an den Rhythmus nicht.
Und ebenso steht es mit den anderen Reizen, die das Lichtspiel von Anfang beim Beschauer auslöste,
und auf deren immer raffiniertere Steigerung es den Technikern und „Dichtern“ des Films ankommt.
Auch hier ist es der Reiz an sich, der gesucht wird. Zu Beginn waren es auch Reize feinerer Art, wie
die schöner Landschaften, — aber es ist bezeichnend, daß der Beschauer gerade dagegen sehr bald ab-
gestumpft wurde und Sensationen irgendwelcher Art, und sei es auch nur der Blick in das Leben
höherer Gesellschaftsschichten, suchte. In allem spürte man einen einzigen Zweck: dem überreizten
und abgehetzten Großstadtmenschen Erholung und Anregung zu geben. Diese Erholung mußte rein
passiv sein; sie durfte nicht, wie das irgendwie noch anspruchsvolle Theater, eine geistige Tätigkeit
verlangen, also nicht etwa die Aufmerksamkeit auf das Wort, das zum Mit- und Nachdenken auffor-
dert, oder auch nur auf eine sinn- oder gar problemvolle Handlung in Anspruch nehmen. Andrerseits
mußte diese Erholung und Anregung sehr abwechslungsreich gestaltet werden und immer neue Reize
auslösen, weil das Großstadtpublikum dieser Art zu einer wirklich ruhigen, wenn auch noch so passiven
Versenkung in irgend einen Eindruck nicht mehr fähig ist.
In dieser Hinsicht ist das Lichtspiel dem Theater weit überlegen, weil es, wie eben erwähnt, eine
rein passive Aufnahme gestattet, und weil seine technischen Möglichkeiten unbegrenzt sind, sodaß es
trotz dem Verzicht auf Wort und Farbe in der Tat immer neue und stärkere Reize bieten kann. So
ist das Lichtspiel nicht etwa nur ein billigerer Ersatz für das Theater, sondern etwas wesentlich ande-
res. Daraus ergibt sich aber, daß die Aufstiegsmöglichkeiten, die für ein, wenn auch noch so verkom-
menes Theater, vorhanden sind, nicht ohne weiteres auch für das Lichtspiel bestehen. Es gilt hier das
gleiche noch einmal, was wir oben bereits feststellen konnten: während auch die entartetste Form des
Theaters immer noch irgendwie mit der alten, aus Fest und Kultus entsprungenen Form des Theaters
zusammenhängt und daher in Richtung auf diese alte Bestimmung hin reformiert werden kann, be-
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