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Innendekoration: mein Heim, mein Stolz ; die gesamte Wohnungskunst in Bild und Wort — 15.1904

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Lehmann, Alfred: Eine Stuhlschau im Lichthof des Berliner Kunstgewerbe-Museums
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https://doi.org/10.11588/diglit.11377#0305

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INNEN - DEKORATION.

arbeit« ; John Gays wunderliches Sitzgerüst, phantastisch,
weit ausladend, mit massigen Armleuchtern versehen,
die Rücklehne zum Niederklappen eingerichtet und als
Schreibtisch zu benutzen, Schubfächer an den Seiten
für Tinte, Feder und Papier, ein Kasten für Bücher
unter dem Sitze und ein sinnreiches Geheimfach für
Briefschaften dahinter verborgen. Da war zu sehen des
geistreichen und verschwenderischen Hoods Plauder-
sessel, dessen hohe Lehne zur ansehnlichen Tischplatte
wurde, wenn man sie auf die Armstützen umlegte; der
reichgeschnitzte Eichenstuhl der schönen Bäckerstochter
und nachmaligen Königin Anna Boleyn ; Sitzmöbel Sir
Walter Raleighs, Lord Byrons, Shelleys, Popes, Dickens,
Thackerays, der Maler Landseer und Millais; auch der
leichte Rohrfaltstuhl Englands grösster Tragödin, Mrs.
Siddons, in dem sie ihre Rollen studierte und den sie,
wenn sie die Katharina in Heinrich VIII. spielte, auf
die Bretter stellen ließ, die ihre einzige Welt gewesen
sind. Jenes ärmliche Stühllein aber, von dem ich eben
sprach, den sein Besitzer gleich einem Königsthron auf
hohe Estrade, abgesondert von den übrigen, gestellt
hatte, stammte aus dem Nachlass des grossen Shake-
speare ! Seine Geschichte erzählt eine verblichene
Handschrift unter Glas und Rahmen auf dem Rücken
der Lehne; ich gebe sie verdeutscht und mit einigen
Kürzungen hier wieder: »Als Garrick gehört hatte, dass
Paul Whitehead, der poeta laureatus, einen Stuhl zu
eigen habe, in welchem Shakespeare zu sitzen pflegte,
wenn er seine unvergleichlichen Dramen schrieb, bat
er mich, jenen Whitehead aufzusuchen und ihn zu
bitten, ihm, Garrick, den Stuhl zu einer Shakespeare-
feier leihweise zu überlassen. Ich übernahm diesen
Auftrag, begab mich in Whiteheads Wohnung zu Twicken-
ham Common und brachte bescheiden mein Anliegen
vor. Aber der Dichter lehnte entschieden ab und meinte
in nicht geringer Zorneswallung, Garrick sei ein Possen-
reisser und durchaus nicht der Mann, dem ein so kost-
bares Juwel anvertraut werden dürfe, — worauf ich
mich bestürzt und traurig zurückzog. Bald darauf starb
jedoch Herr Whitehead, und da sein Nachlass unter
den Hammer kam, bat ich einen seiner Nachbarn, den
Stuhl für mich zu erstehen. Er willfahrte meiner Bitte,
erwarb den Stuhl und machte ihn mir zum Geschenk;
so habe ich nie die Höhe des Kaufpreises erfahren.
Seitdem ist er in meinem Besitz und soll es bleiben für
den Rest meines Lebens. J. B.« Eine andere Handschrift
darunter versichert, dass die Buchstaben J. B. John Bacon
bedeuten. — Nicht vor seinem leuchtenden Marmor-
standbild in der Westminster-Abtei, nicht in dem engen
Stüblein zu Stratford am Avon, wo seine Wiege ge-
standen , habe ich mich dem gewaltigen Genius so
nahe gefühlt, als vor dem kümmerlichen Wrack jenes
hölzernen Armstuhles, auf dem sein Körper ruhte, der-
weil der Geist in die abgründigen Geheimnisse der
Menschenseele eindrang, — in dem er vielleicht, das
gedankenschwere Haupt auf die Linke gestützt, mit der
Rechten jenes furchtbare »Sein oder Nichtsein« schrieb.
Die Sammlung ist später, nach dem Tode ihres Be-
sitzers, eines Herrn Godwin, versteigert worden, und
von den ferneren Schicksalen der Shakespeare-Reliquie
vermag ich nichts zu sagen.

Wir müssen zum andern von jenem stuhlerfüllten
Lichthof des Berliner Museums uns mit Geistesschwingen
— doch nein, allzuweit schon verflogen sich unsere

wandernden Gedanken. Wenden wir nun den Blick
den Dokumenten selber zu!

Bei der räumlichen Anordnung der Möbel sind
drei Gesichtspunkte maßgebend gewesen: die Zeit ihrer
Entstehung, das Volk, für das sie geschaffen waren
und innerhalb dieser Gruppen ihr allgemeiner Gebrauchs-
zweck. Ein Katalog der Ausstellung soll hier nicht
geschrieben, sondern nur das Augenmerk auf einzelne
interessante Erscheinungen gerichtet werden: die natür-
lichen Grundformen der Sitzmöbel variieren im Grunde
genommen nur wenig. Von Koloman Moser und van
de Velde zurück bis zu dem altägyptischen Urschreiner
ist ihr konstruktives Gestell so ziemlich das gleiche,
nur für die Ausgestaltung im Einzelnen ist das Sitz-
bedürfnis und überhaupt »das Recht auf einen Sitz«
bestimmend gewesen: ob man gewohnt war, viel oder
wenig zu sitzen, stundenlang oder flüchtig wie die
Schwalbe auf dem Telegraphendrahte, feierlich oder
lässig, um eine Audienz zu erteilen oder zu zwangloser
Plauderei, zur Arbeit, zum Mahle oder zu träumender
Rast. Und was das seit dem sechzehnten Jahrhundert
zeremoniell geregelte Sitzrecht betrifft, — »alle Höflinge
glauben, zur Seligkeit nach dem Tode gehöre: Sitzen
»dürfen?, sagt Nietzsche« — nun, wem es erteilt war,
der sollte sich zum wenigsten nicht allzu gemütlich auf
seinem Sesselchen fühlen! Bleibt der Kern des Stuhles
aber im ewigen Wechsel der äußeren Lebensformen im
allgemeinen der nämliche, so paßt sich doch sein Umriss
und sein Ornament dem jeweils herrschenden Zeit-
geschmack an. Bei den Sitzmöbeln der Halbkultur-
völker , — die ihren ausgeprägten Stil haben, wenn
er auch in den kunstwissenschaftlichen Handbüchern
mit nur wenigen und meist abfälligen Worten charak-
terisiert wird, — begegnet uns häufig in Farben und
Formen eine lebhaft quellende Phantasietätigkeit und
zuweilen auch Schmuckmotive, die wir als das ureigne
Gut der zivilisierten Nationen betrachtet hatten, z. B.
der gotische Spitzbogen, rokokoartige Schweifungen
und Schachbrettmuster, die an Wiener sezessionistische
Ornamentik erinnern u. a. — Die schier im Uebermaß
vorhandenen Sitzgeräte der Spätrenaissance und der
von ihr abgeleiteten Stile beweisen nur, wie weit diese
prunkhaften Formen von unserem heutigen Schönheits-
empfinden abgerückt sind, wenngleich, oder gerade
weil sie erst vor wenigen, Jahrzehnten unsere Schreiner-
kunst als einzige Quelle gespeist haben. Sie vermögen
uns weder zu erfreuen, noch uns irgend etwas zu lehren,
— wir grüßen sie und gehen schweigend an ihnen
vorüber. — Sympathischer schon berührt uns der Stuhl-
formenschatz aus der Zeit des abermaligen »Wieder-
besinnens« auf die Antike, soweit er nicht in unmittel-
barer Nachahmung römischer Vorbilder besteht. Vor
allem sind hier die en°;lischen Stühle aus der zweiten
Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts zu nennen und was
im deutschen Norden, angeregt durch die Schöpfungen
Heppelwhites, Sheratons, Adams u. a. beinahe gleich-
zeitig oder ein wenig später geschaffen worden ist.
(Siehe die drei Abbildungen auf Seite 298.) Auch der
in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts
herrschende, fast schmucklose Biedermeierstil zeigt uns
kräftige, jedoch anmutig geschwungene und niessende Stuhl-
umrissformen, die unseren heutigen Geschmack jedenfalls
nicht feindlich berühren. Von den dreien zu dieser
Gruppe gehörigen und hier abgebildeten Lehnstühlen,
 
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