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Die Kunst für alle: Malerei, Plastik, Graphik, Architektur — 5.1889-1890

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Flotow, Max von: Kunst und Handwerk: ein Beitrag zur Kunst- und Kulturgeschichte der Gegenwart
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https://doi.org/10.11588/diglit.10738#0277

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Kunst und Handwerk

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zudrängte, sondern auch in dem durch die politischen und staatlichen Verhältnisse eng gezogenen Kreise die
regenerierende Kraft fehlte, die allein aus dem breiten Boden eines in steter Entwickelung begriffenen Volks-
tumes zu erblühen vermag. So mußte naturnotwendig den Glanzzeiten einer mittelalterlichen Kunst, den
schönheitstrunkenen Tagen des Cinquecento, der Blüte einer edlen Renaissance eine Periode des Verfalles
folgen, weil jede Form der Veränderung zustrebt und bei dem Mangel einer volkstümlichen künstlerischen
Kraft diese Veränderung sich nur zu einer Verirrung gestalten konnte. Der Künstler aber, der in sich den
Trieb verspürte, ohne Anregung von außen bildnerisch zu gestalten und aus sich selbst heraus die alten
Formen zu modifizieren und sie mit neuen Ideen zu erfüllen, sah sich auf das Gebiet eines idealen Schaffens
verwiesen, mußte sich damit begnügen, rein ideale Ziele zu verfolgen und immer seltener ward es ihm ver-
gönnt, mit seinen Gaben praktischen Zwecken zu dienen und aus den Ätherkreisen seines Schaffens in die
Kreise eines profanen Seins niederzusteigen. Das ist heute anders und — Gott sei Dank — besser geworden.
Wir haben eine Kunst, die mitten unter uns wandelt; eine Kunst, die jedermann versteht und die jedermann
zugänglich ist; eine Kunst, welche auch das Heim des Minderbemittelten betritt und sich nicht darauf beschränkt,
die Launen der oberen Zehntausend zu befriedigen. Und das ist die Kunst, welche sich mit dem Handwerke
verschwistert, welche einem schöpferischen Real-Jdealismns zur schönen Verwirklichung verhilft und in den
Kreisen unsers Gewerbstandes gewichtigen Sitz und Stimme hat; sie ist heute in der Arbeitsstube des Tischlers
ebenso zu Hause, wie ehedem in dem Atelier des Bildhauers oder Malers; sie führt dem Schmiedemeister in
ornamentenreicher Arbeit den Hammer und schreibt allüberall, wo auch immer die Hand zur Arbeit sich regt,
die Schönheit als oberstes Gesetz vor, läßt sie als tägliches Bedürfnis empfinden. So stehen sich Kunst und
Handwerk heute nicht mehr als fremdartige Elemente gegenüber, die getrennt durchs Leben gehen, sondern in
engem Bunde haben sie den Idealismus des einen dem Realismus des andern dienstbar gemacht und
dadurch einen schier verloren geglaubten Zweig des menschlichen Schaffens zu neuer Blüte gebracht — das
Kunsthandwerk.
Die Anfänge des modernen Kunstgewerbes dürften aus dem Jahre 1850 herzuleiten sein. Nachdem
in den dreißiger und vierziger Jahren unsers Jahrhunderts die immer weiteren Boden gewinnende maschinelle
Technik die letzten Spuren eines dereinst hoch entwickelten Gewerbzweiges getilgt hatte, empfing das schlummernde
Schönheitsgefühl aus dem Süden unsers Vaterlandes neue Anregung; man schritt in München zur Gründung
eines Kunstgewerbevereins, der mit von Zeit zu Zeit sich erneuernden Ausstellungen an die Öffentlichkeit trat.
Es folgten die Weltausstellungen in London, Paris und Wien, welche zu Vergleichen heraussorderten und die
deutsche Industrie, das deutsche Handwerkertum zu einer erneuten Thätigkeit im Dienste der Schönheit an-
spornten. Der treffliche Schinkel kam mit künstlerischen Entwürfen zu Möbeln, zu Geräten und Gefäßen, zu
einer formenschönen und farbenfrohen Ausgestaltung unsres Hauses dem ernüchterten deutschen Handwerker
zuhilfe; G. Semper lieh der Anlage des Londoner Kensington-Museums seine künstlerische Kraft und vereinigte
im ehemaligen Glaspalaste eine Sammlung von mustergültigen Hervorbringungen des Kunstgewerbes aus den
verschiedensten Kulturperioden; in der Kaiserstadt Wien erstand unter Eitelberger das österreichische Museum
für Kunst und Industrie und bald folgten in Karlsruhe, Berlin, Leipzig, Stuttgart, Köln, Frankfurt a. M.
u. s. w. kunstgewerbliche Museen, welche den deutschen Handwerkerstand zu einem edlen Wettkampf um den
Preis der Schönheit entflammten. Kunstgewerbliche Lehranstalten wurden begründet, eine neue Disciplin trat
als selbständiger Faktor in die Reihe der Unterrichtsgegenstände; eine eigene Litteratnr machte in Zeitschriften
und Broschüren für die neuen Ideen eifrig Propaganda und durch That, Wort und Schrift fand die den
Forderungen des praktischen Lebens angepaßte Schönheitslehre immer weitere Verbreitung. Staat und Gemeinde,
künstlerische und gewerbliche Fachgenossenschaften machten sich die Hebung des wiedererstandcnen deutschen
Kunsthandwerkes zur Aufgabe, und wenn wir heute die Resultate dieser Bestrebungen überblicken, so dürfen
wir billig über den in wenigen Jahrzehnten vollzogenen Wandel der Dinge staunen und mit dem Gefühle
der Genngthuung über das bisher Erreichte die Hoffnung znm Ausdrucke bringen, daß eine auf so starker
volkstümlicher Basis ruhende schöpferische Kraft den Drang nach Veränderung der Formen nur im Sinne
einer Verbesserung und Veredelung zum Ausdruck bringen werde.
Daß auch unserm modernen deutschen Kunsthandwerke in der übertriebenen Betonung des dekorativen
Schönheitsprinzipes auf Kosten des Nützlichkeitsprinzipes eine Gefahr droht, ist freilich eine Anschauung, der
wir uns nicht verschließen können und die auch durch die letzte deutsch-nationale Kunstgewerbe-Ausstellung
zu München neue Nahrung erhalten hat. Noch erscheinen zwar auch hier die Formen einer edlen Renaissance
als die herrschenden und in dem Jnnenraum des an den Ufern der Isar sich hinziehenden Ausstellungs-
gebäudes ist ihnen der breiteste Raum gewidmet gewesen; aber neben ihnen gelangte eine ganze Reihe kunst-
gewerblicher Erzeugnisse zur Ausstellung, bei welchen die reine Renaissance als ein überwundener Standpunkt
erscheint und der Übergang in die unruhigen Formen des Rokoko bereits vollzogen ist oder doch unverkennbar
bevorsteht. Selbst die Architektur des Hauptausstellungsgebäudes schien mit ihrem dem Rokoko sich nähernden
dekorativen Auspntze einen Geschmackswechsel innerhalb des deutschen Kunstgewerbes signalisieren zu wollen.
 
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