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Die Kunst für alle: Malerei, Plastik, Graphik, Architektur — 5.1889-1890

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Brandes, Otto: Der Salon Meissonier, [1]
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https://doi.org/10.11588/diglit.10738#0367

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Der Salon Meissonier. von Gtto Brandes

städtischen Metzgerladen Wacht, zu dem die Frauen des
Viertels pilgern, um sich ihre Fleischration zu holen. Das
Drängen der namentlich der armen Klasse angehörenden
Hausfrauen um die magere städtische Gabe, die Sorgfalt,
mit welcher der Nationalgardist die Legitimationen unter-
sucht, sind mit hübschem Talent zum charakterisieren und
die naßkalte Stimmung in der Natur und unter den dar-
gestellten Personen mit Geschick zum Ausdruck gebracht.
Dieses wie Binets Bild, Soldaten in einer Tranchee
den Aufstieg eines Ballons beobachtend, sind für Stadt-
häuser, Lerolles in schönem goldigem Tone gehaltene
Darstellungen aus dem Leben des hl. Martinus für eine
Kirche bestimmt.
Das Einzelporträt wie das Gruppenbild ist in die-
sem Salon glänzend vertreten.
Ribot, Carolus Durand, Friant, Gervex,
Roll, Lhermitte, der Belgier Stevens, der Spanier
Frappa, der Italiener Boldini, Rixens, Dagnan
Bouveret, Edelfeldt haben die Produkte ihres
reichen Könnens hieher gebracht. Aber auch kleinere
Götter dürfen wir nicht vergessen, so Smith, der trotz
seines englischen Namens ein Franzose ist, Courtois,
der mit seinen Porträts gleichzeitig ein überaus lebendiges,
als Panneau für das Foyer des Odeontheaters ge-
dachtes Bild Lisette, ansgestellt hat. Letzteres stellt ein
vor einem mächtigen Leinenschrank stehendes Kammer-
kätzchen, ein Vorwurf ans dem „Universal-Erbe" von
Regnard in Lebensgröße dar. Dann die Schweizerin
Frl. Breslau, vor allem auch unsere Sophie Pühn
aus München mit ihrer prachtvollen, vergnügten Mama
mit dem großen Strickzeug am offenen, auf den sonnen-
beleuchteten Garten gehendem Fenster. Auch Otto Hierl-
Der onc o (München) wäre hier allenfalls mit seinem im Hell-
licht gemalten Damenportrüt zu erwähnen. Kein Relief, zu
unruhiges Arrangement und etwas schwefelgelber Ton! Doch
treten wir an die Porträts der Meister. Vor den Bildern
Th. Ribots, eine ganze Sammlung, es sind deren
zehn, hält alles mit offenem Munde. Die Unbefangenen
können es nicht begreifen, daß ein hervorragender Künstler,
wie Ribot sein soll, nicht seine eigene Handschrift schreibt,
sondern seinen Geist in die Buchstabenformen zwängt,
deren sich ein Ribera beispielsweise bediente, während
doch die Handschrift umgekehrt der Ausfluß des Geistes
und Charakters eines Menschen sein soll. Alle Ribotschen
Bilder haben den Muscumsgeruch. Er modelliert aus
Hellen, grauen und schwarzen Tönen aus schwarzem
Grunde heraus seine Köpfe in allerdings genialer Weise
zusammen. Aber was nützt mir diese archaisierende Tech-
nik, wie kunstvoll sie auch die Spanier und die Neapoli-
taner ja selbst das Nachdunkeln der Farben nachahmt,
den Eindruck frisch pulsierenden Lebens erhalte ich —
die Ribotschwärmer mögen mir deswegen zürnen so viel
sie wollen — darum doch nicht und deshalb ziehe ich
mir, wenn es auch vielleicht ein wenig kreidig geraten
ist, das lebensvolle Bild Rolls den jüngeren Coquelin von
der Ooineckie Iranquise darstellend vor. Das Porträt in
natürlicher Größe zeigt Coquelin im Gesellschaftsanzuge,
wie er im Begriff steht einen seiner famosen Mono-
loge, es kann kein andrer als „der saure Häring" sein,
zu deklamieren. Er hat eben sein: II etait un granck
inur Klane, nu, nn, nu mit jener unbeschreiblichen Ver-
längerung im Tone bei dem letzten „nu" gesagt und lugt

nun eine Sekunde »ach dem Erfolg dieser ersten Worte
seiner herzbewegenden Erzählung ans. Ich habe nicht
die Gewohnheit aus Bildern Glocken läuten zu hören
und aus Gesichtern, die nichts sagen, Gedanken lesen zu
wollen, aber dieses Bild von schreiender Ähnlichkeit hat eine
laut zu dem Beschauer sprechende und zwar fidele Seele, die
ihn mit in ein fröhliches Behagen versetzt. Ebenso ist das
lebensgroße Porträt der Schauspielerin Jeanne Hading
überaus lebendig und der schöne Kopf dieser Blondine von
einer großen Wärme des Tones. Ein Meisterstück der
Durchdringung des Kindeslebens ist das Porträt des seinen
Morgenimbis verzehrenden Babys des Künstlers, über
welches sich die diese Frühstückszcremonie leitende Wär-
terin beugt. Auch die übrigen vier Porträts machen
auf die hier gerühmten Eigenschaften fast gleichwertigen
Anspruch. Man denke, Roll stellt neuen Bilder ans,
sechs Porträts und drei Landschaften. Ja, drei Land-
schaften! Die großen Künstler mauern schon lange hier
sich nicht mehr in einen engen Raum der Beobachtung
ein. Dem Atelier entrissen und der Natur wiedergegeben,
suchen sie wie in den besten Zeiten der Kunst, dieselbe
mit ihrem äußeren und inneren Auge soweit nur immer
möglich zu erfassen. Diese Universalität in der Kunst
verflacht nicht, sondern vertieft, da die Geheimnisse der
Natur sich erst dem Auge offenbaren, das sie in ihrem
inneren Zusammenhänge betrachtet. Friant Edelfeldt,
Dagnan Bouveret, Gervex haben neben ihren Porträts
nackte Studien Sitten- nnd Landschastsbilder ausgestellt.
Fast auf derselben künstlerischen Höhe wie die Porträts
von Roll stehen die von Gervex. Sein großes Gruppenbild
des Redaktions-Personals der „Republique franqaise" ist
das Resultat einer glücklichen Assimilierung und einer macht-
vollen Wiedergabe. Mit welcher Bierbehaglichkeit lauscht der
dicke Spuller in seinem Lehnstuhle der Rede des greisen, aber
mit jugendlicher Koketterie gekleideten Challemel Laconr
über einen Artikel des „Temps", während der skeptische,
redegewandte Korse Arene mit dem an dem Redaktions-
schreibtisch sitzenden Joseph Rheinach, dessen Kopf der
Künstler mit besonderer Liebe modelliert und durchge-
arbeitet hat, diskutiert. Im Hintergründe der frühere
Minister Waldeck Rousseau nnd ein andres Redaktions-
mitglied. Ans dem Kamine die Büste des Meisters,
Gambettas. Das spricht und hört und denkt auf diesem
Bilde in den Formen, den Gesten, die den dargestellten
Leuten eigen, das sind keine Porträts, das ist gelebtes
Leben. Ich lasse die Einzelporträts Gervex bei Seite.
Was sich von seinem Gruppenbilde sagen läßt, ist dem
von Lhermitte ansgestellten: „Ein Vortrag bei dem ver-
storbenen Chemiker Saint-Claire Dcville" eigen. Der
Arbeit, die vortrefflich arrangiert und äußerst lebendig
ist, läßt sich vielleicht der Vorwurf machen, daß der
Künstler das Kolorit der jugendlichen und älteren Phy-
siognomien nicht hinreichend nüaneierte. Lhermitte, der
bekanntlich hauptsächlich Beobachtungen aus dein Land-
leben ausstellt, in welchem der große Oberfärber „Sonne"
alles in sein Braunfaß steckt, hat zum Teil übersehen,
daß die Studierstube und das Stadtleben den Teint nach
Alter nnd Konstitution variieren. Seine ländlichen, meist
Getreide-Ernteszenen, die dieses große Bild einrahmen,
haben zwar in ihrer derben Realistik noch den Reiz
früherer Arbeiten, verraten aber die Gefahr, daß der
Erfolg eine fabrikmäßige Mache herbeiführcn könnte.

(Der Schluß im nächsten Hefte)
 
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