Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Die Kunst für alle: Malerei, Plastik, Graphik, Architektur — 20.1904-1905

DOI Artikel:
Heilmeyer, Alexander: Über Münchener Plastik, [1]
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.12355#0192

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
«*=feg> ÜBER MÜNCHENER PLASTIK -C^J=v-

zu pfropfen, wäre vielleicht gelungen. Allein
bei dem Mangel jeglicher Tradition war es
nicht möglich, eine alte Kultur, die am Tiber
und am Arno blühte, an die Isar zu verpflanzen.
Wohl wurden mit dem romantischen Helle-
nismus jener Tage eigentümliche Elemente
in unser Kunstleben getragen, die immer
fortwirkten und zu eigentümlichen Stilbil-
dungen führten, die man am besten als einen
ins Oberbayerische übersetzten Klassizismus
bezeichnet. Den bescheidenen Anfang be-
ginnender Klassizität an der Isar bietet der
„Harmlos", die Marmorstatue eines nackten
Jünglings am Eingange des Englischen Gartens.
Es ist dies eine Arbeit des älteren Schwan-
thaler. Der jüngere, der berühmte Ludwig
Schwanthaler, ist der Schöpfer der Bavaria
und anderer zahlloser Statuen. Er verstand
es am besten, sich mit den Intentionen seines
Mäzens abzufinden; er arbeitete rasch und
billig. Sein Talent, in ruhiger, ungestörter
Entfaltung entwickelt, wäre stark genug ge-
wesen, die Bildhauerkunst zu hoher Geltung
zu bringen. Wie durchaus plastisch gefühlt
in der ganzen Konzeption ist nur die Bavaria!
Der Beschauer, der den Koloß betrachtet,
gewinnt davon sofort eine klare gegenständ-
liche Vorstellung. Das Standbild steht in

francesco sanguinetti philosoph

einem vorzüglich berechneten Verhältnis zu
seiner nächsten Umgebung. Außerordentliches
Stilgefühl bekundet Schwanthaler auch in den
Reliefs an den Propyläen und vor allem in
dem schönen Relief über der Eingangstüre
zur Anatomie in der Schillerstraße. Wie gut
steht dieses lebhaft empfundene, formschöne
Bild des Jünglings im Kampfe mit der Sphinx
zu dem architektonischen Rahmen und zu
der Bestimmung des Baues! Ohne Zweifel
hat die durch die außerordentliche Bautätigkeit
König Ludwigs hervorgerufene Richtung in
der Bildnerei den Sinn für das dekorativ
Monumentale geweckt. Wir dürfen nur die
vier Steinfiguren der sitzenden Philosophen
auf der Freitreppe der kgl. Staatsbibliothek
von Sanguinetti, dann die von Wagner
ausgeführten Genien und die von Halbig
modellierte Viktoria auf dem Siegestor be-
trachten.

Vorherrschend blieb freilich ein eklektischer
Zug, der vor allem auf die bloße Nachahmung
antiker Vorbilder gerichtet war. Wie sehr
einzelne feinsinnige Künstler das Wesen der
Plastik aus der Anempfindung antiker Vor-
bilder abstrahierten und sich diesen zu
nähern suchten, sieht man am besten in
der Gruppe „Cheiron lehrt Achill das Saiten-
spiel". Freilich war auch Brugger, der
Schöpfer derselben, darin ganz im Glauben
seiner Zeit befangen, daß er die Idealität der
Anschauung im Stofflichen, im Ausdruck des
gegenständlichen Motives statt in der Form
suchte. Man war der Meinung, die Plastik
müsse sich direkt nachbildend an die Antike
und ihren Stoffkreis halten. Die sogenannten
Gipsklassen der Akademien, in denen nach Ab-
güssen antiker Statuen gezeichnet wurde, er-
schlossen nur wenigen den antiken Kunst-
geist. Denn es ist eine alte Erfahrung, daß
zur Erkenntnis desselben eine außerordent-
liche Reife gehört, wie sie junge Kopisten
unmöglich erworben haben können. Wie erst
die Lehrlinge in den Werkstätten in die Ge-
heimnisse antiker Formgebung eingeweiht
wurden, erhellt aufs schlagendste die Methode
eines alten Gesellen, der bei seinen täglichen
Unterweisungen der Jugend im Hinblick auf
die Venus von Milo sagte: „eine glatte, runde,
volle Form, gerade wie die Antike, das sei die
Hauptsache." Sobald einer nur den leisesten
Versuch unternahm, etwas freier und indivi-
dueller zu arbeiten, erregte er das größte
Aufsehen, so z. B. Halbig, den Pecht den
ersten frechen Naturalisten heißt. Doch der
Gang der kommenden Entwicklung ließ sich
durch die ihr entgegentretende Kritik nicht
mehr hintanhalten. Das Streben, vom toten

170
 
Annotationen