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Die Kunst für alle: Malerei, Plastik, Graphik, Architektur — 24.1908-1909

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Popp, Hermann: Kunst und Denken
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https://doi.org/10.11588/diglit.12503#0273

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-*-fcg> KUNST UND DENKEN <^=^

epidemisch verbreiteten Ueberschätzung der
Bücherweisheit, unserer abstrakten Wissen-
schaftlichkeit.

Die Elemente, welche unserer sogenannten
Bildung zugrunde liegen, werden fast aus-
schließlich in altgewohnter mittelalterlicher
Weise durchs Gehör vermittelt und über der
Bildung durchs Ohr die durchs Auge ver-
nachlässigt. Ein gewisser klösterlicher Cha-
rakterhaftet unserem gesamten Lehrverfahren
noch heute an. Es ist von Anfang an abstrakt.
Augenleben und Phantasie, die gerade in den
Lernjahren am lebendigsten sind, am nach-
drücklichsten Befriedigung verlangen und von
hier aus auch am leichtesten und erfolgreichsten
in fruchtbare Bahnen geleitet werden könnten,
bleiben eingedämmt und verkümmert. Die
Bücher stehen im Zentrum der Schule, nicht
die lebendigen Dinge. Sie verbinden nicht
mit dem Leben und darum fehlt die Mög-
lichkeit, an Gelerntes anzuknüpfen. So ersetzt
man die Anschauung durch Abstraktionen,
züchtet einseitig gedankliche Buchmenschen,
bei denen mit dem äußeren Auge auch das
innere erlischt, denn Menschen, die körper-
lich zu sehen verlernt haben, werden auch
seelisch blind. In ihren Augen spiegelt sich
die Welt wie in denen eines Hausknechts.
Sie gehen an den Erscheinungsformen der
Natur wie der Kunst vorüber ohne die Fähig-
keit froher Erkenntnis und freudigen Genie-
ßens. Und das heißt nichts anderes als Ver-
zichtleistung auf eine reinere und reichere An-
sicht des Daseins, auf eine Befruchtung und
Steigerung des Lebensgefühls. Aber dieser
Verlust trifft nicht nur die Einzelindividuen.
Er wird von bestimmendem Einfluß für die Ge-
schichte, die Kultur und Weltanschauungganzer
Nationen. Nur das Volk darf sich wahrer Kultur
erfreuen, bei dem sich anschauliches und ab-
straktes Denken, Intellekt und Sinnlichkeit har-
monisch zusammenschließen. Das war im alten
Hellas der Fall. Hier gerade zeigt sich jedoch
auch, welche Folgen eintreten, wenn die Wich-
tigkeit eines ebenso mit den Sinnen wie mit
dem abstrakten Intellekt geführten Lebens
außer acht gelassen wird, wenn sich der eine
dieser Faktoren vom andern sondert oder gar
auf Kosten des andern präponderiert. Griechen-
lands Wissenschaft verfiel der Sophistik, seine
feine, das ganze Leben durchströmende Sinn-
lichkeit verrohte, als sich innerhalb der hel-
lenischen Kultur jene Spaltung vollzog, welche
die Philosophie vom Sinnenleben, das Ab-
strakte vom Anschaulichen löste.

Das Mißverhältnis, das in dieser Beziehung
bei uns herrscht, ist unverkennbar auf allen
Gebieten, und es erscheint zum mindesten

zweifelhaft, ob wir uns auf die Bezeichnung
„Volk der Denker" so überaus viel einzubil-
den haben. Dieses an sich gewiß ehrenvolle
Attribut geht schließlich doch nur auf Kosten
unserer Fähigkeit, auch ein Kunstvolk zu sein.
Und dies haben wir nicht etwa unserer aller-
dings erbarmungswürdigen politischen Vergan-
genheit zuzuschreiben, auch nicht jener großen
revolutionären Umwälzung in die Schuhe zu
schieben, welche ein altangestammtes Kunst-
publikum durch den Plebejer ersetzte, der
schon seit Jahrhunderten keinen Anteil mehr
an der Kunst hatte, sondern der Einseitigkeit
unseres Geisteslebens, den abstrakt wissen-
schaftlichen Tendenzen, die uns des Formen-
sinnes, des anschaulichen Denkens beraubten.
Wie wäre es sonst wohl zu erklären, daß
wir zwar das Organ für die bildende Kunst,
nicht aber zugleich auch das für die Musik
eingebüßt haben? Und als musikalisches Volk
dürfen wir uns jedenfalls mit weit höherem
Recht betrachten, wie jede andere Nation.
Der Italiener begeistert sich an den Jammer-
lauten des unkünstlerischsten aller Musik-
instrumente, der Mandoline. Aber er ist voll
feiner Empfänglichkeit für Formen und Far-
ben. Sein Augenleben ist intensiv und differen-
ziert, sein Denken plastisch. Wir Deutsche
machen die beste Musik der Welt, können
uns einer außergewöhnlichen musikalischen
Feinfühligkeit rühmen, aber das Wissen er-
setzt uns die Plastizität des Denkens, der Be-
griff die Anschauung. Und vor lauter Be-
griffen ohne die Möglichkeit ihrer Verdeut-
lichung ist es schließlich ganz egal geworden,
worauf diese Begriffe sich beziehen. So hat
sich denn auch als notwendige Folge jenes
oberflächliche Nachschwätzen wissenschaft-
licher Dinge herangebildet als echtestes Sig-
num einer Zeit, deren Bildungsdünkel Zweck
und Mittel verwechselt und deren Streben
größtenteils in einer Handbuch- und Konver-
sationslexikon-Kultur Befriedigung findet.

In der Masse der Abstraktionen und dem
absoluten Mangel an Anschauung liegen die
Schäden unserer Erziehung und Bildung. Und
diese bleibt ein ungewachsener, unorganischer
Bau, solange nicht eine tiefgehende Reform
unser Geistesleben neu gestaltet, jene har-
monische und innige Verbindung und Durch-
dringung des anschaulichen und abstrakten
Denkens bewirkt, ohne das eine höhere Zivili-
sationsidee überhaupt nicht möglich ist. Eine
Aufgabe und Arbeit für Generationen. Der
künstlerisch-ästhetischen Erziehung wird da-
bei sicher eine Hauptrolle zufallen; aber sie
muß in allererster Linie auf die Anschauung
gerichtet sein, uns sehen lernen, und zwar

Die Kunst für Alle XXIV.

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