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Kunst und Künstler: illustrierte Monatsschrift für bildende Kunst und Kunstgewerbe — 6.1908

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Heft 7
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Eliasberg, Alexander: Klassizistische Baukunst in Moskau
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https://doi.org/10.11588/diglit.4705#0289

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HAUS NAIDJONOW, GARTENFRONT

anlächelt, ist dem innersten Wesen dieser sonderbaren
Stadt eben so fremd, wie die verblichene asiatische
Märchenpracht der in imbeweglicher Ruhe schlum-
mernden Akropolis: des Kreml.

Der von der Schönheit des Kreml berauschte
Fremde glaubt gleich in den ersten Tagen seines
Aufenthalts in Moskau die Eigenart der Stadt und
des Landes erfasst zu haben; er glaubt, dass der
Kreml ein lebendiges Ding ist und dass er, mit der
Stadt eng verbunden, ihrer äusseren und inneren
Kultur den Stempel aufgedrückt hat. Doch bald
überzeugt er sich eines anderen. Der Kreml ist
längst tot und der Stadt entfremdet; diese lebt aber
ein eigenes Leben und besitzt eine eigene Seele,
die dem Fremden zunächst verschlossen bleibt. In
seinen Bemühungen, das Wesen Moskaus zu er-
fassen, irrt er tagelang planlos in den engen ver-
schlungenen Gassen, die alle vollkommen einander
gleichen, umher; er sieht nur unbedeutende, lang-
weilige kleine Wohnhäuser, oft ganz in Holz ge-
zimmert, endlose oben mit spitzen Nägeln versehene
Bretterzäune dazwischen, manchmal eine kleine ver-
lorene Kirche oder Kapelle. Doch plötzlich bleibt

er entzückt stehen: zwischen zwei armseligen Häu-
sern entdeckt er ein königliches Gitter, aus Eisen
geschmiedet, mit Liktorbündeln, Lanzen und Helmen
verziert; eine mächtige von halbverwitterten Stein-
löwen oder Greifen flankierte Einfahrt; dahinter
einen verwilderten, schattigen Vorgarten und im
Hintergrunde ein Palais, von schlanken, weissen
Säulen umgeben, von so herrlichen Proportionen,
von so reinen Linien, dass er wie versteinert stehen
bleibt und dies Wunder der Baukunst geniessend
auf sich einwirken lässt ....

Er stösst dann öfter auf solche in den unan-
sehnlichsten Gässchen versteckten und über die
ganze Stadt verstreuten Wunderwerke einer alten
Baukunst und begreift allmählich, dass diese Bau-
werke mit dem Wesen der Stadt eng verknüpft
sind, dass sich in ihnen die ganze Eigenart Moskaus
offenbart, dass sie die eigentliche Seele der Stadt
darstellen. Auch sind diese Paläste nicht tot, wie
der Kreml. Manchmal öffnet sich die vornehme
Einfahrt und ein goldbetresster Portier lässt eine
reiche Equipage passieren; an Winterabenden sehen
wir zuweilen durch die hohen Fenster lichtüber-

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