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Kunst und Künstler: illustrierte Monatsschrift für bildende Kunst und Kunstgewerbe — 6.1908

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Heft 2
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Chronik
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https://doi.org/10.11588/diglit.4705#0100

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CHRONIK

OKTOBERAUSSTELLUNGEN.

Die ersten Ausstellungen dieser Saison haben uns
Arbeiten zweier französischer Maler gebracht,
die für ein grösseres Ganzes dastehen. Gericault und
Cezanne bezeichnen mit ihrer Produktion zwei Punkte,
zwischen denen sich die ganze neuere französische Kunst
in einem majestätischen Bogen dahinwölbt; zwischen
ihnen liegt die Arbeit dreier unsterblicher Generationen,
die leidenschaftlich gearbeitet, gelitten und triumphiert
haben. Der Allgemeinheit noch unbekannte Bilder Geri-
caults, aus den Sammlungen Ackermann und Cheramy,
sind bei Gurlitt ausgestellt, in Deutschland ebenfalls unbe-
kannte Zeichnungen Cezannes waren es bei Paul Cassirer.
Gericault unterwirft den Betrachter sofort seiner
kühnen Leidenschaftlichkeit. Er war ein Wunderkind,
eine jener phänomenischen Begabungen, die in jedem
Jahrhundert den Meistern gesellt scheinen, als hätte die
Natur das Vollendete nicht in einem einzigen Strahl
hervorbringen können. Wie Giorgione sich zu Tizian,
Bonnington sich zu Constable, Vermeer sich zu Rem-
brandt verhält, so ungefähr steht Gericault zu Delacroix.
Ungefähr! Kaum dreiunddreissigjährig ist er gestorben,
als hätte die Fülle der Begabung, die Leidenschaft des
Willens das Gefäss zerbrochen. Ein Dämon scheint in
diesem Menschen gewesen zu sein und dem Neunzehn-

jährigen schon die Hand geführt zu haben; sonst wäre die
sichere Meisterschaft des Selbstporträts unerklärlich —
dieses herrlichen Bildnisses, worauf der noch knaben-
hafte Genius mit einem edlen Schicksalskopf, mit breiter
und hoher Stirn, schmaler, kühner Nase und wunder-
voll fest und üppig geformtem Mund vor uns hintritt,
das in äusserlicher Weise an das Bild des jungen Grafen
Einsiedel von Rayski erinnert und innerlich an die
Selbstbildnisse Delacroix' und Feuerbachs. Ohne jede
Pose blickt ein heroischer Mensch aus dem Rahmen;
ein schwermütig Kühner aus des ersten Napoleon lauter
Heldenzeit, die vom Odem dramatischer Grossartigkeit
und von schicksalsschwererSoldaten- und Kriegsromantik
durchweht war. Diesem Künstler floss das Heroische
natürlich und leicht ins Werkzeug, es ruhte nicht, in-
tellektuell erfroren, im Gehirn. Eine kleistische Sturm-
natur muss Gericault gewesen sein, ein byronsches
Temperament; als Romantiker klassisch, und als Klassiker
romantisch. Seine Malerei, die sich zu der getürmten
Pracht des „Medusenflosses" michelangelesk erheben
konnte, war zugleich rembrandtisch tiefer Mystik fähig.
Eine ganze kommende Zeit spiegelt sich in dem kaum
fünfzehnjährigen Wirken. Wie Manet an Valesquez
denken macht, so erinnern Bilder wie die bei Gurlitt
ausgestellten beiden „Narren" — Bilder aus einer Suite,

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