ADOLF OBERLÄNDER, FLICKSCHNEIDER
in der es von neuen Lebenskräften quillt; und man
verlasse die Veranstaltung darum mit gesteigerter
Zuversicht, trotzdem der Gesamteindruck nicht
eben ruhig und harmonisch ist. Wo die Jugend
herrscht, wo die ihre Stil form noch Suchenden
aufgeregt gegeneinander stehen, kann es nicht
anders sein. Niemand kann revolutionär sein und
zugleich reif. Ausserhalb des Leiblkabinets wird
darum in dieser Ausstellung abgeklärte Ruhe kaum
gefunden. Wer es aber liebt, in Kunstausstellungen
schauend die Zusammenhänge zu denken, wer durch
die Erscheinungen der Kunst dahinzuwandeln ver-
steht, wie durch die Natur, wo Jedes nur für sich
da zu sein scheint und Eines ohne das Andere doch
nicht denkbar ist, der wird in der Sezession auch
diesesmal auf seine Kosten kommen. Wo der
flüchtige, der egoistische Betrachter nur Willkürlich-
keiten wahrzunehmen meint, da sieht Jener ein all-
gemeines Müssen individuell variiert. Nichts leichter,
als gerade diese Ausstellung im landläufigen Sinne
zu kritisieren. Eine edlere Auffassung ist es, in
diesem Salon der Jungen auf sich wirken zu lassen,
was man die Epopöe der Stilgedanken nennen könnte,
den Ablauf der grossen Empfindungskurve zu ver-
folgen, deren Biegungen und Neigungen von den
Instinkten einer ganzen Zeit bestimmt werden.
Es ist gesagt worden, Leibl gehöre nicht in
diese Ausstellung. Seine herrlichen Bilder, die uns
zum grössten Teil noch unbekannt waren, sind ge-
priesen worden, wie sie es verdienen. Aber man
hat hinzugesetzt, das meiste des daneben Vorhandenen
wäre ihrer Meisterschaft unwürdig und es gehöre
Leibls Kunst einem ganz anderen Empfindungskreise
an. Die Wahrheit ist, dass Leibls Gegenwart in
dieser Ausstellung geradezu symbolisch wirkt. Frei-
lich thront ein Werk wie das Bildnis der Gräfin
Treuberg über allen Arbeiten ringsumher wie eine
Madonnenerscheinung, freilich distanziert seine reife
Meisterschaft in gewisser Weise alles neben ihr; aber
es ist jenes Bildnis auch eines der schönsten Werke
deutscher Malerei vielleicht, das im neunzehnten
Jahrhundert geschaffen worden ist, und gegen den
Gesamteindurck dieses halben Hunderts von Bildern
und Zeichnungen eines Seltenen vermögen ver-
einzelte, von den Zufälligkeiten der Jahresproduktion
berührte Werke junger Künstler natürlich nicht auf-
zukommen. Was Leibls Gegenwart bedeutend macht
ist, dass er in diesem Kreise der Jugend wie ein
Ahn unter Enkeln dasteht. An diesen Platz gehört
er so gut wie in die Nationalgalerie. Zu den
Lebendigen von Heute gehört er, wie Ingres zu
Manet, Degas und Lautrec, wie Courbet zu Manet,
Cezanne, Gaugin und deren Nachfolgern. Neben
Liebermann muss er stehen, der als Anfänger auf
Munkacsy, dem treuen Leiblverehrer, einst blickte,
der sich, wie Leibl, zu Courbet hingerissen fühlte
und dem deutschen Norden geworden ist, was der
Einsiedler von Aibling und Kutterling dem Süden
war. Zu den Jüngsten gehört dieser Vielumfasser,
weil er, durch Trübner, unmittelbar mit ihnen ver-
bunden ist. Und er mag sogar dort weilen, wo ein
Habermann ihn und seine Malweise mit kühnem
Manierismus ad absurdum führt.
35*
in der es von neuen Lebenskräften quillt; und man
verlasse die Veranstaltung darum mit gesteigerter
Zuversicht, trotzdem der Gesamteindruck nicht
eben ruhig und harmonisch ist. Wo die Jugend
herrscht, wo die ihre Stil form noch Suchenden
aufgeregt gegeneinander stehen, kann es nicht
anders sein. Niemand kann revolutionär sein und
zugleich reif. Ausserhalb des Leiblkabinets wird
darum in dieser Ausstellung abgeklärte Ruhe kaum
gefunden. Wer es aber liebt, in Kunstausstellungen
schauend die Zusammenhänge zu denken, wer durch
die Erscheinungen der Kunst dahinzuwandeln ver-
steht, wie durch die Natur, wo Jedes nur für sich
da zu sein scheint und Eines ohne das Andere doch
nicht denkbar ist, der wird in der Sezession auch
diesesmal auf seine Kosten kommen. Wo der
flüchtige, der egoistische Betrachter nur Willkürlich-
keiten wahrzunehmen meint, da sieht Jener ein all-
gemeines Müssen individuell variiert. Nichts leichter,
als gerade diese Ausstellung im landläufigen Sinne
zu kritisieren. Eine edlere Auffassung ist es, in
diesem Salon der Jungen auf sich wirken zu lassen,
was man die Epopöe der Stilgedanken nennen könnte,
den Ablauf der grossen Empfindungskurve zu ver-
folgen, deren Biegungen und Neigungen von den
Instinkten einer ganzen Zeit bestimmt werden.
Es ist gesagt worden, Leibl gehöre nicht in
diese Ausstellung. Seine herrlichen Bilder, die uns
zum grössten Teil noch unbekannt waren, sind ge-
priesen worden, wie sie es verdienen. Aber man
hat hinzugesetzt, das meiste des daneben Vorhandenen
wäre ihrer Meisterschaft unwürdig und es gehöre
Leibls Kunst einem ganz anderen Empfindungskreise
an. Die Wahrheit ist, dass Leibls Gegenwart in
dieser Ausstellung geradezu symbolisch wirkt. Frei-
lich thront ein Werk wie das Bildnis der Gräfin
Treuberg über allen Arbeiten ringsumher wie eine
Madonnenerscheinung, freilich distanziert seine reife
Meisterschaft in gewisser Weise alles neben ihr; aber
es ist jenes Bildnis auch eines der schönsten Werke
deutscher Malerei vielleicht, das im neunzehnten
Jahrhundert geschaffen worden ist, und gegen den
Gesamteindurck dieses halben Hunderts von Bildern
und Zeichnungen eines Seltenen vermögen ver-
einzelte, von den Zufälligkeiten der Jahresproduktion
berührte Werke junger Künstler natürlich nicht auf-
zukommen. Was Leibls Gegenwart bedeutend macht
ist, dass er in diesem Kreise der Jugend wie ein
Ahn unter Enkeln dasteht. An diesen Platz gehört
er so gut wie in die Nationalgalerie. Zu den
Lebendigen von Heute gehört er, wie Ingres zu
Manet, Degas und Lautrec, wie Courbet zu Manet,
Cezanne, Gaugin und deren Nachfolgern. Neben
Liebermann muss er stehen, der als Anfänger auf
Munkacsy, dem treuen Leiblverehrer, einst blickte,
der sich, wie Leibl, zu Courbet hingerissen fühlte
und dem deutschen Norden geworden ist, was der
Einsiedler von Aibling und Kutterling dem Süden
war. Zu den Jüngsten gehört dieser Vielumfasser,
weil er, durch Trübner, unmittelbar mit ihnen ver-
bunden ist. Und er mag sogar dort weilen, wo ein
Habermann ihn und seine Malweise mit kühnem
Manierismus ad absurdum führt.
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