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Kunst und Künstler: illustrierte Monatsschrift für bildende Kunst und Kunstgewerbe — 6.1908

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Heft 11
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Bernard, Émile: Erinnerungen an Paul Cézanne, [2]
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https://doi.org/10.11588/diglit.4705#0496

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Künstlers. Doch die Form, bei weitem nicht so vor-
nehm gesehen wie er sie später fand, war durch die in
der Manier Daumiers übertrieben dick aufgetragene
Farbe oft schwerfällig. Ich sah bei dem alten
Tanguy, dem Farbenhändler in der Rue Clauze,
einmal eine nackte, liegende Frau, die trotz ihrer
Hässlichkeit ein meisterhaftes Kunstwerk war; denn
diese Hässlichkeit war von jener unbegreiflichen,
packenden Grösse, die Beaudclaire zu dem Aus-
spruch veranlasst:

„Les charmes de l'horreur n'enivrent que les
forts."

Dies wahrhaft immense, auf ihrem Bett lang
ausgestreckte Weib, das an die „Riesin" des eben
genannten Dichters erinnert, hebt sich hell von
einer grauen, mit einem naiven Bildchen ge-
schmückten Wand ab. Im Vordergrunde flammt
ein roter Stoff, der über einen groben Stuhl ge-
worfen ist. Ausser dieser liegenden Frau sah ich
noch das Porträt des Malers Achille Empe'raire,
eines Gefährten von Cczanne. Ich fragte Diesen
mehrmals nach dem Künstler, den er sehr geliebt
zu haben schien, und von dem er mir eine schöne,
bei Suisse gezeichnete Aktstudie zeigte. „Er war
ein sehr talentvoller junger Mensch," sagte er, „ihm
war von der Kunst der Venezianer nichts ver-
borgen. Ich sah oft, dass seine Sachen den ihren
gleichwertig waren. Kürzlich wurde hier das
Mobiliar eines Cafes versteigert, in dem sich zwei
Bilder von ihm befanden, aber ich wusste den Tag
der Auktion nicht. Dennoch habe ich mir vor-
genommen, sie mir zu verschaffen, ich bedaure
sehr, dass sie mir entgangen sind." Der alte Tanguy
hatte mir früher von diesem Achille Emperaire ge-
sprochen und mir von seinem kümmerlichen Leben
erzählt; er erhielt von seiner Familie nur i 5 Frcs.
monatlich und hat das schwierige Problem gelöst,
in Paris mit fünfzig Centimes täglich zu leben. Das
Elend hat ihn sicherlich getötet, denn er ist noch
jung an Entkräftung inid Erschöpfung gestorben.
Auf dem Porträt meines alten Lehrers ist er im
Schlafrock, auf einem grossen Armstuhl sitzend,
dargestellt, seine hageren Hände hängen über die
Lehne, der offene Schlafrock lässt die magere, nur
mit Unterhosen bekleideten Beine sehen, die beiden
Füsse stehen auf einem Wärmer. Cczanne hat ihn
gemalt, wie er nach seinem morgendlichen Bade
auszusehen pflegte. Der überlebensgrosse Kopf
mit langem Haar ist schön und ausdrucksvoll,
Schnurr- und Zwickelbart zieren Lippen und Kinn;
die sehr grossen Augen mit den schweren Lidern

sind voll Mattigkeit. Dieses Bild wurde vermutlich
nach dem Kriege in den Salon geschickt und ebenso
wie die liegende Frau abgewiesen. Ich entdeckte
es unter einem Haufen anderer, sehr mittelmässiger
Bilder bei Julien Tanguy, der mir die Geschichte
erzählt hat. Er musstc es vor Cczanne, der ihn oft
besuchte, verstecken, denn Dieser hatte beschlossen,
es zu vernichten. Jetzt ist es im Besitz des belgischen
Malers Eugene Boch in Monthyon bei Meaux.

Cczanne hat sein Leben lang von seiner Zulassung
zum Salon geträumt. Er hat das ganze Leben dar-
unter gelitten, dass er abgewiesen wurde und sprach
noch oft davon, was er für den Salon Bouguereau
machen wollte. (Es kümmerte ihn wenig, dass
dieser Unternehmer gestorben war, für ihn hatte
sich nichts geändert.) Er hatte die Absicht, eine
Apotheose Delacroix, zu malen, und zeigte mil-
den Entwurf dazu. Der tote Meister der Romantik
wird von Engeln emporgetragen, einer von ihnen
hält seine Pinsel, der andere seine Palette. Darunter
breitet sich eine Landschaft aus, in der Pissaro vor
seinem Motiv steht. Zur Rechten Claude Monet
und im Vordergrunde Cczanne, der rückwärts mit
einem Spiess in der Hand, einer Jagdtasche an der
Seite und einem grossen Hut auf dem Kopfe an-
kommt; zur Linken applaudiert Herr Choquet den
Engeln, und in einer ticke steht ein bellender Hund
(nach Cczanne das Symbol des Neides), der die
Kritik repräsentiert. Er erwies mir die Ehre, mich
an Stelle von Herrn Choquet setzen zu wollen und
Hess sogar eine Photographie in der für diesen
Zweck gewünschten Stellung von mir machen,
allein er starb, ohne sein Werk vollendet zu haben.

Cczanne war zu meinem grossen Staunen kein
Feind der Benutzung von Photographien seitens des
Malers, aber für ihn musste sie eine genaue Wieder-
gabe der Natur sein. Er hat auf diese Weise einige
Malereien gemacht und sie mir bezeichnet, aber
ich erinnere mich ihrer nicht mehr.

Wir verliessen das Atelier bald, um zusammen
zu dem „Motiv" zu gehen. Er führte mich vor die
Sainte Victoire, und wir begannen dort jeder eine
Studie, er in Aquarell und ich in Öl. Als wir zu-
rückgingen, führte er mich, um eine kleine Strecke
abzukürzen, an eine sehr abschüssige und schlüpfrige
Stelle.

Er ging voran und ich folgte ihm. Mit einem-
mal trat er fehl und wankte. Ich versuchte sogleich,
ihn aufzuhalten, doch kaum hatte meine Hand ihn
berührt, als er in grosse Wut geriet, fluchte und
mich schalt, dann vorauslief und mir ab und zu

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