Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 41,2.1928

DOI Heft:
Heft 7 (Aprilheft 1928)
DOI Artikel:
Lose Blätter
DOI Artikel:
Umschau
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.8884#0063

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
schen Jndividualfall hinaus finden wir in seinem Bekenntnisbuch eine Fülle tvert-
voller Gedanken, ja jene Lotung, die die Tiefe der Zeit zu ermessen sucht, nicht nur
ihre Breite, ihr Fließendes, Wogendes (wie bei Graf). Ernste Erwägungen über
die Problematik des deutschen Jdealismus, über den gesährlichen Jndividualismus
der protestantischen Welt, über die Fragwürdigkeit deutschen össentlichen Erziehungs-
wesens, kluge Gedanken über Musik und den Geist der Moderne, Abwehrgedanken
gegenüber der heute so vordergründlichen Technik vereinen sich hler in dem Willen,
sich dieser neuen Welt zu ösfnen, vereinen sich hier in einem Selbsterläuterungsversuch,
einem Erziehungsversuch, dem niemand seineAchtung verwehren kann.Eine sast christliche
Haltung, um die Welt zu wissen und Loch frei von ihr zu sein, um die Welt sich zu bemühen
um GotteS willen, bricht hier und dort durch. Aber ohne zu einer wirklichen, die Wirk-
lichkeit unserer Gegenwart ersassenden Lösung zu kommen. Könnten wir es anders
erwarten? Doch Hesse gibt ja, wie wir sahen, eine Lösung durch Berzauberung,
durch die magische Besreiung des Humors. Aber kann er uns mit diesem romantischen
Theater-Schluß überzeugen? Gewiß hat Humor etwas Besreiendes, LösendeS. Aber
Humor, Galgenhumor zumal, erlöst nicht. Hesse, der die Fahne der Nomantik
mit Recht in einer allzu technisierten, materialisierten Welt hochhält, täuscht sich und
uns, wenn er im befreienden Humor einen AuSweg auS der so verzweiselten Lage
der Gegenwarr gefunden zu haben glaubt. Es gilt gerade, jede pathologische Roman-
tik, jedes Sichselbstbespiegeln zu überwinden und nüchtern die Dinge des Geisteö
und der Erde anzusehen und anzugreisen. Es gilt, ohne sertige und gesundene Lösung
den Dienst des TageS und der Zeit zu ersüllen. Aus welchen letzten religiösen Kräften
dies allein geschehen muß, einem außer uns Liegenden, das dürste allein mit dem
Worte Gnade getrossen werden. Hesses Philosophie bleibt wirkungslos, weil sie
das Jch wohl zerspalten, ja auflösen will, weil sie es aber nicht erträgt und zuläßt,
daß eben dieseS Jch als Jch durchbrochen wird von seinem Du, durchstoßen und aus
den Grund erschüttert wird von dem „Ganz Anderen", von Gott. Aber weil es, wie
dort ein Schrei, so auch hier ein Rusen nach dem Wort ist, weil diese Mängel aus-
gesprochen oder verschwiegen bloßliegen, erblicken wir in diesen beiden so verschie-
denen Bekenntnisbüchern, so glaube ich, wirkliche „Dokumente der Zeit".

Umschau

Front und Etappe

Eine allgemeine Bemerkung auläßlich einer
Kleist-Diskussion

<?^n dem Buche „Die Beziehungen zwi-
^Dschen dem Jch und dem Unbewußten"
schreibt der Verfasser C. G. Jung am
Schlusse: „Jch habe mir zwar a!le Mühe
gegeben, den Psad des Verstehens zu eb-
nen, aber die eine große Schwierigkeit
konnte ich nicht aus dem Wege räumen,
nämlich die Tatsache, daß die meinen Aus-
führungen zugrunde liegenden Erfahrun-
gen wohl den mcisten unbekannt und dar-
um fremdartig sind." An dieses Wort
ward ich lebhaft erinnert, als mir dieser
Tage eine Zeitungsäußerung zu Gesicht
kam, die sich polemisch mit einem von
mir geschriebenen Kleistaussatz beschäf-
tigte. Es ist nicht der konkrcte Gegen-
stand dieser Polemik, der uns hier beschäs-

tigen soll, sondern ein allgemeiner und
in der ösfentlichen Erörterung häufig auf-
tretender Gegensatz zweier verschiedener
Betrachtungsweisen. Nur das eine muß
ich des Verständnisses halber vorausschik-
ken, daß ich in dem erwähnten Aufsatze
unter andrem geschrieben hatte, Kleist
stehe mit seinem ungeheuerlichen, nie ge-
stillten Lebenshunger vor uns als ein Ge-
spenst, gierig nach dem einen Trunk Blu-
tes, um den sich in Homers Unterwelt
die Schatten drängen; nur auS diesem un-
heilbaren, inwendigen Lebenömangel lasse
sich die Uberschwenglichkeit von Kleists
Liebesforderung, der vampirische Zug in
der „Penthesilea", sein Jubel im Ange-
sicht seines von einer Partnerin geteilten
Todes verstehen. Gegen diese Ausführun-
gen machte jene Polemik unter anderem
geltend, Kleist sei durchauö kein „Ge-
spenst" gewesen, sondern — Gott sei

55
 
Annotationen