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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 41,2.1928

DOI Heft:
Heft 12 (Septemberheft 1928)
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Nötzel, Karl: Tolstoi: zur hundertsten Wiederkehr seines Geburtstages am 9. September 1928
DOI Artikel:
Egidy, Emmy von: Selma Lagerlöf und Ricarda Huch, [2]
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https://doi.org/10.11588/diglit.8884#0420

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Werte, es klärt uns auch vielfach auf über bie Wesenheit uns wertvoller
Dinge, woil sich der Russe mit ihnen, deuen wir ohne weiteres Eigenwesen und
damit Anspruch auf besondere Beachtung zuerkennen, nur so nebenbei befaßk,
oft wider Willen und dazu auch noch meift zu außerhalb ihres Wesens lie-
genden Zwccken. Da osfenbart sich dann, was unzerftörbar ift an ihnen.

Als russifcher Dichter, der die Seele immer nur in Abwehrftellung erblickt,
kannte Tolftoi nur die eine Frage: nach der Schuld dcs Menfchen, und er
faßte sie — im Gegensatz zu Doftojewski — vom Standpunkt des Schul-
digen auf. In die ewige Dichteraufgabe, die Freisprechung des Menfchen
vor dem Menfchen, brachte er cin wesentlich neues Moment: er wies unser
aller nahezu nnlösliches, wenigftens niemals völlig abzufchüttelndes inneres
Gebundensein an die Anfchauungen der Kreise nach, in die wir hineingeboren
und hineinerzogen wurden und in denen wir dann feftgehalten werden durch
diejcnigen, die uns am nächften ftehen. So räumte dieser Dichter Berge von
Haß beiseite und ward ein großer Lehrer großen Verftehens. Dabei übte er
aber auch dcn weiteren Dichterberuf: immer wieder die Lebensfülle dem Men-
fchen nahezubringen, in ganz neuartiger Weise aus: er wies nach, wie sehr wir
alle mitleben mit dem Schicksal der Allgemeinhelt, und daß dieses, sofern wir
es billigen können oder mißbilligen müssen, unser Lebensgefühl bis in nnsere
Selbsiachtrmg hinein beftimmt. Ihm selber, als reuigem Edelmann, war die
wachsende Erkenntnis seines Volkes zum inneren Schicksal geworden. Er ließ
sich innerlich leiten von seiner Schuld an ihm, und erhob fchließlich denjenigen,
an dem er sich am meiften versündigk hatte, den russifchen Bauern, zu dem
menjchlichen Vorbild. Daß er ihm dabei nicht folgen konnte bis in seme reli-
giösen Urgründe hinein, das hielt ihn der Vollendung ferne. Er bleibt aber
auch so ein großes Sinnbild und ein sehr großer Künftler.

Gelma Lagerlöf und Ricarda Huch

Von Emmy v. Egidy

II.

^l^icarda Huchs Dichtung erblüht unter dem Zeichen des Eros.

^ ^So unmiLLelbar aus den noch unzerlegten Urelementen S. Lagerlöfs Werk
aufwächft, wirkt auch Eros noch völlig aufgesogen im Ganzen, kann keine be-
tonke Geftalt annehmen, ift noch m'cht bewußt und benannk. Denn Eros unter
den Götterfchöpfungen der Antike nicht einer der erften, sondern gerufen, um
unter den selbftändig in die Erfcheinung tretenden Teilen des Ganzen die Be-
ziehung wieder zu fchasfen, ift der Versöhner alles in Gegensatz Getretenen,
der Heiler jeder Losgeri'ssenheik, der endliche Auflöser allen Zwiespalks, der
Heimführer. Wirkend als solcher ift er überall in S. Lagerlöfs Werk,
benannt selten. Aber in keinem anderen als in seinem N'amen kann z. B.
in „Herrn Arnes Schatz" der notwendige Ablauf der Gefchehnisse sich voll-
ziehen, den wir Heutigen „Gerechtigkeit" nennen. Überall, wo diese Gerechtig-
keit in S. Lagerlöfs Werk sich osfenbark, wirkt Eros, nicht ein nur ge-
fchlechtlich bedingker, sondern der Eros, der auch Menfch und Tier verbunden
hält und mit Pflanzen, Wolken, Wi'nden und Eisfchollen in der Kette der
Dinge urtümlich verfchwifterk sein läßt.
 
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