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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 41,2.1928

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Heft 9 (Juniheft 1928)
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Umschau
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https://doi.org/10.11588/diglit.8884#0220

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Umschau

Die Vieldeutigkeit des Kunstwerks

unsttverke haben eine kostbare Eigen-
schaft, die sie in hervorragender Weise
dazu befähigt, Haus- und Lebensgenossen
des Menschen zu sein: ihre Dieldeutig-
keit. Sie sprechen nicht nur eine einzige
Sttmmung aus, um sich jeder andern zu
tvidersetzen. Sie passen sich vielmehr mu-
sikalisch den wechselnden Gemütslagen und
Geisteszuständen deS Menschen an. Ztvar
überschreiten sie dabei nicht ein eigenes,
ihnen durch den besonderen Charakter ge-
setztes Maß, aber weitgehend schwingen
sie innerhalb dieser Grenze mit den Tak-
ten der Menschenseele mit. Sie geben
Antwort auf eine frische, tätige Stim-
mung, aber sie begleiten auch Stunden
der Bersonnenheit mit Derständnis. Die
Bilder sind nicht eindeutig; sie haben
gleichsam eine weite Weisheit und tiefe
Herzenskenntnis; sie verstehen den
Menschen in allen seinen seelischen Bewe-
gungen. Das ist ein Zug, öen sie mit
den Naturdingen gemeinsam haben. Und
in dieser geheimen Berschwisterung mit
derMcnschenseele liegt die fördernde, stei-
gernde oder tröstende Kraft der Kunst
wie der Natur begründet. Die Kunst
weiß vom Menschen. Sie weiß viel
mehr von ihm, als sie im ersten Augen-
blick ausspricht. Je größer ein Kunstwerk
ist, desto höher, desto ausgebreiteter ist
auch dieses sein stilles „Wissen" vom
Menschen. Langsam und vorsichtig, als
fürstliche Frcunde und wundervolle Ee-
liebte, geben sie ihr Wissen im Verkehr
mit dem Menschen kund. Sie adeln jede
Stunde, in der man sie mit frischen Sin-
nen erblickt, und immer wissen sie genau
daü rechte Wort, um unS im Sinne uns-
res eiqenen Zieles zu mahnen oder zu
erfreuen. W. M.

Die Zeitlupe

er erinnert sich noch des Entsetzens,
das uns packte vor den ersten Mo-
mentaufnahmen gehender Menschen, mar-
schierender Truppen usw.? Das Bild des
sich bewegenden Menschen zerfiel in lauter
abgehackte, häßlich-unverständliche Einzel-
momente. Wie man sich auch winden
mochte vor der Erkenntnis: die Kamera
gab es so wieder, also war eS so.

Mit der Anmaßung der autoritären

„Wirklichkeit" wurde uns befohlen, uns
damit abzufinden: das menschliche Auge,
hieß es, indem es zusammenziehe, ver-
schöne unbewußt — in Wirklichkei't sei die
Bewegung des Menschen so abscheulich
häßlich. Sie war also plumper als die
eines Rhinozeros, das doch die Größe und
Schwere zu seiner Entschuldigung hat.
Trostlos! Aber man hatte es zu glauben.
Jrgend etwas in uns wankte, aber man
hatte sich fest auf die Wirklichkeit zu
stützen und der Wahrheit tapfer ins Auge
zu sehen, denn: Wirklichkeit ist
Wahrheitl! — so sagte man.

Und nun kommt im Gefolge des laufenden
Vildes die Zeitlupe, die verlangsamte Auf-
nahme der Bewegung in ihrem lückenlosen
Zusammenhang, und wie ein Wundertäter
schließt sie den Abgrund, der zwischen den
abgehackten Bildern sich auftat, und siehe
da: etwas Einzig-Schöneö entsteht. Wir
sind getröstet, daS Gleichgewicht ist wieder
hergestellt, der Glaube an unser Auge und
seine Wahrheit neu gestärkt. Jene
Wirklichkeit war also keine
Wahrheit. Sondern in Wahrheit ist
die Bewegung des organischen Körpers,
sei er Mensch oder Tier, von einer Schön-
heit, wie wir sie unü in unseren kühnsten
Träumen nicht vorgestellt. Die Zeitlupe
ist zu einer Offenbarung geworden. Es
ist geradezu, als sei unS durch die
Verlangsamung der Bewegung eine neue
Dimension gefchenkt worden. Es ist, als
solle die Technik, die uns lange genarrt
und sich zwischen uns und die Natur ge-
schoben hat, nun doch einiges wieder gut-
machen. Hier hat sie uns ein Fenster ge-
öffnet, daS bisher verschlossen war.
Eines TageS verschleppte ich einen wüten-
den Filmgegner in eine Zeitlupen-Vorfüh-
rung. Der Zufall führte uns an einem
Fußballplatz vorbei, hartnäckig sah mein
Freund zur andern Seite und erklärte mir,
daß er, der kein Sportinteresse habe, diese
häßlichen, springenden, ruckhaften und zu-
sammenhanglosen Bewegungen nicht er-
tragen könne; es ärgere ihn einfach solch
komisches anfallähnliches Aufeinanderlos-
springen; diese Raufereien und Glieder-
knäuel seien ihm lächerlich peinlich; er sähe
daeinfach nicht hin, wozu sich über Häßliches
ärgern, da es so viel Schönes gäbe!
Gleich darauf saß er vor der Zeitlupen-

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