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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 41,2.1928

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Heft 9 (Juniheft 1928)
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Lose Blätter
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Tribüne
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https://doi.org/10.11588/diglit.8884#0213

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gleich drehte sie das GesichL des Mädchens der Lampe zu, fuhr der Ber-
schüchkerten streichelnd über die Haare, über das GesichL und die jungen wie
2ltlas schimmernden Schultern, während sie zärtlich sagte: „Du Reizende!
. . . Seht doch, welch Liebreiz! . . . Du Entzückende! . . . Ach, wie leid du
mir tust!" entrang es sich plöHlich der Brust Marfa Andrjewnas. Dann zog
sie das Mädchen immer näher an die Lampe heran, drehte cs einige Male um
sich selbst und ergöHke sich bei den verschiedenen Stusen der Beleuchkung an
dem Gesicht und der nackten Brust der Schönen. Plöhlich umschlang sie das
Mädchen, preßte es an sich und flüsterte mit mütterlicher Leidenschaft: „Jch
und du, wir beide werden gemeinsam das Kind in unsern Schutz nehmen!"
Bei diesen Worten zog Marsa Andrjewna das Mädchen noch sester in ihre
Arme; die alabasternen 2lrme der Schönen legken sich wie ein seidenes Gespinst
um den runzligen Hals der Bojarin; die beiden Frauen schluchzten laut und
küßten einander. Es gab keinen Unterschied des Standes mehr zwischen ihnen.
Die Licbe hakte alles ausgeglichen und gceint.

Tribüne

Unterwegs

Blätterbries aus dem Lustschiss
Von Kurt Karl Eberlein

ch schreibe Dir, mein Freund, aus dem Luftschiss einige kurze Briefblätter,
^^Blätter meines Notizblocks. Wenn der Block leer ist und der Boden voll liegt,
höre ich auf. Das Ganze geht wie ein Ballast in Deine irdische Wohnung als Flug-
post ab. Weiß der Teufel, wo sie jetzt liegt! Hossentlich kannst Du meine Schrist
lesen. Gedanken sind ja auch ost unleserli'ch. Was tuts! Du kennst meinen Wahl-
spruch: „alö ich kan."

Wir haben Berlin unter uns, hinter uns. Darauf kommt es an: Berlin hinter sich
zu haben. Man muß da leben, aber man sollte da nicht leben. Man muß es unter sich
haben und davonfliegen könnem Es ist ja keine Stadt, sondern ein Stadtland, das
sich sür das Reich hält. Bon oben eine merkwürdige Geschichte! Ein Schloßstädtchen,
das durch Anbau und Anbau eine Kolonie wird, ein Stadthafen, ein blmschlagplatz,
cin Derkehrshindernis. Wir haben also das „Reich" hinter uns und sliegen über
die Kolonien, die ein Komiker „provenoo" nannte. Die Lust wird heiter. Es gibt
unten nach all dem italienischen Salat schon wieder ganze Platten mit Grün. Die
Natur beginnt aufzuatmen. Mein Motor arbeitet schon besser.

Eben sieht die Landschaft aus wie die deutschen Wahlparteien. Große und kleine
Flecken, alles bunt durcheinander. Ein paar Kühe und Ochsen malerisch verteilt. Die
einen wiederkäuend, die anderen grasend. Das Riesenspielzeug einer großen Wiese.
'kout comme ober nous! Fch habe vergebenS versucht, nach dem System der Wahlzettel
„Für Männer", „Für Frauen" die Geschlechter zu unterscheiden. Auf den Bahnhöfen
ist das leichter. Von oben ist alles bisexuell. Aber was macht man mit all den Ver-
kleideten im Wahllokal? Läßt man Mäuse springen? Was schreit, ist weiblich! Fch
habe den Feldstecher bei mir, um die LandeSgrenzen zu unterscheiden. Das ist sehr
schwer, und erfordert große Schnelligkeit. Dielleicht wird doch an manchen Grenzen
die Luft dicker...?

Jetzt weiß ich, wie Historiker sehen sollten: alles ornamental, von oben, atlasartig,
geo-logisck). Die Handelsstraßen — die Schlachtfelder — die Sternbilder der Festun-
gen und Städte soziologisch, d. h. industriell. Es wird alles ornamental, wenn man

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