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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 41,2.1928

DOI Heft:
Heft 11 (Augustheft 1928)
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Michel, Wilhelm: Die Stunde des Bürgers
DOI Artikel:
Egidy, Emmy von: Selma Lagerlöf und Ricarda Huch, [1]
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https://doi.org/10.11588/diglit.8884#0338

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sems. Das Nxue liegk nicht darrn, daß dies überhaupt gesehen wird; sondern
darin, daß es auch von den bisherigen Gegnern gesehen wird, daß keine moderne
Betrachkung der Welt ohne eine weitgehende Berücksichtigung der Funktion
der „Verbürgerung" auskommt. Der Geist strebt freilich immer danach, die
Welk zu verjüngen, sie im strömenden, wandelbaren, genialischen Zustand zu er-
halten. 2lber er sieht heute dieser seiner eigentlichen Tendenz die Funktion der
Berbürgerung, d. h. die Funktion der 2lnwendung und Auswertung, der Ent-
wafsnung und Domestizierung, der euphemistischen Umprägung immer deut-
licher als eine ebenso notwendigc, komplementäre Tendenz beigesellt. Dics sührt
weiter zu dem Anerkenntnis, daß selbst der geistige, d. h. aus ein Extrem an
Lcbenssrische verpslichtete Mensch das Dasein nicht immer aus erster Hand
leben kann. Es ist keinem Sterblichen gegeben, sich in jedem Augenblick und
nach jeder Seite hin vollkommen bewegt und quellend, vollkommen ergrissen
und aufbruchsbereit zu verhalten. Auch der Geistigste muß in sciner Welt Un-
eigentliches dulden, er muß einwilligen, daß das Gesährliche sich gezähmt in ihr
einbürgert und das Bewegte seßhast wird — sosern er nicht die andre, die
höhere Möglichkeit wählen und zum Opfer werden will. Für jeden Augen-
blick der Frische muß er leiden, daß anderswo in ihm sich vertrocknete, filzige
Materie ansammelt, reine Hemmung, die sest bleibt, bis auch sie ohne Gefahr
für das Ganze wieder bewegk werden kann.

Fn dieser Denkweise, in dieser auch das Bürgerliche umsassenden Ausdehnung
des Blicks scheint mir das beschlossen zu sein, was ich die Gunst dcr Zeit
oder vielmehr der Stunde sür die bürgerliche Lebenssorm genannt habe. Die
Bcruhigung, die sich daraus für das Bürgertum (im allerweikesten Sinne) er-
geben hat, äußert sich nichk immer in ersreulichem Sinne. 2lber über 2lugen-
blicksnötc muß die Erwägung hinaussühren, daß mit der Einsenkung des Gei-
stcs in das Leben eine neue Enkwicklung begonnen ist, von der eine viel um-
fasscndere, wenn auch verborgencre und weiter hinauszielende Bewegthcik er-
wartet werdcn kann.

Selma Lagerlöf und Rrcarda Huch

Von Emmy v. Egidy

„Sagst du Gott, so spnchst

du oom Ganzen." Goethe.

fr^em Dichter eignet das 2lmt, Nvtwendigkeiten seiner Zeit zu crfüllen,
^L^ohne um sie eigentlich zu wissen. Notwendigkeitcn, die dein 2lugenblick
gelken, oder solche, die ihn mit der Zukunst verbinden, und endlich solche, die
über die Forderung des Tages hinaus als ewige 2lusgabe des Dichters be-
grisfen werden: Weltschöpfung, Menschenschassung.

So hat die naturalistische Pcriode, die in den ncunziger Iahren begann,
ihrer Zeit das gegeben, was sie brauchke: 2luslockerung erstarrter 2lltbeständc,
Beschleunigung eines Gärungsprozesses, der den letzten Ereignisscn curopäischer
Geschichte vorausgehen mußte. Ganz abgcsehen von den künstlerischen Werten
üieler ihrer Bertreter, die sie zu dauerndem Besitz der Weltliteratur gemachk,
ü>ar diese nakuralistische Periode und das was ihr folgke im tiefsten Wesens-
begriss dessen, was Dichtung im Leben derVölker bedeutet: Notwen'digkeiL.

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