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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 41,2.1928

DOI Heft:
Heft 11 (Augustheft 1928)
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Michel, Wilhelm: Die Stunde des Bürgers
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https://doi.org/10.11588/diglit.8884#0336

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XXXXI.

Die Stunde des Bürgers

VonWilhelmMichel

(H^acheinander haben sie sich in den letzten Iahrzehnten zum Sterben uieder-
^ gelegt: der Dandy, der Ästhet, zuletzt der Bohemien. Diese anti-
bürgerlichen Typen waren zwar immer Randgestalten, Extreme; aber sie be-
deuteten etwas Breiteres und Allgemeineres. Sie trugen ihre Sonderbarkeit
mik einer gehcimen Ermächtigung der Zeit vor, sie waren lehte Ausslüsse jener
Vormachtstellung des subjektivischen „Geistes", die im ganzen ig. Iahrhundert
ungebrochen bestand (die Extreme, die eine Zeik duldet, deuten am schärssken aus
die Werte und Kräfte, die sür diese Zeit maßgebend sind). Der Dandy, der
aus Haltung und Eigenheit bedacht war und der nichts so sehr scheute, als ein
nützliches Mitglied der menschlichen Gesellschaft zu sein; der Ästhet, der alle
Fragen dec Menschenlebens unter formale Gesichtspunkte zu bringen nnter-
nahm; der Bohcmien, der aus reiner, ungeordneter Innerlichkeit, aus nächsten
Trieben und Gedanken lebte — sie bezeugten alle eine Vorliebe der Zeit sür
das ungcbundene Individuum, für den „Geisk", sosern er privat, aufständisch
nnd zerlegend war. Es waren, wie gesagt, Randgestalten; aber eine geheime
Gunst der Epoche stand ihnen zur Seite und gab ihnen TLerbekrast weit über
ihren nächsten Kreis hinaus. Erinnern wir uns an jenen begükerten Iüngling
in Murgers „Boheme"! Die wesentliche soziale Vorbedingung des Zigeuner-
Lums, die Armut, ist für ihn nicht gegeben. Aber der Stil der Boheme, der
im Hauptpunkt ein Skil des wirkschastlichen Elends ist, hat sür ihn eine solche
Anziehungskraft, daß er ihn zu seinem eigenen zu machen wünscht. Diese An-
ziehungskrast ist dem Stil der Boheme lange erhalten geblieben. Noch im An-
sang dieseo Iahrhunderts gab es bemittelte Snobs, die ihn aus allen Kräfken
zu assektieren suchken, und selbsl die echten Bohemiens zeigten häusig in der Be-
tonung zigeunerischer Stilelemente jenen eitlen Übereiser, der in so vielen Zügen
an das Gebaren der alten zynischen Philosophen erinnert. Heute aber ist es
der Stil der Begüterten, dem die Gunst der Zeit zur Seite stehk, und alsbald
stellen sich die zugehörigen Randerscheinungen ein: selbst die Armen suchen den
Stil der Begüterten nachzuahmen. Können sie ihn in der Wohnung, in dcr
Küche, im Gesamtzuschnitt des Lebens nicht durchsühren, so sorgen sie wenig-
stens sür eine Kleidung, die sie von weitem den echten Trägern dieses Stils
ähnlich macht.

In dieser Gegenüberstellung liegt Geschichte. Es mußte sich Außerordentliches
verändern, um den Stil der Außenseiter um die Gunst der Zeit zu bringen und
den Stil der „Arrivierten" in sie einzusetzen. Darin liegt viel mehr als der
Wcchsel einer Mode, einer Gebärde. Mit Rcchk haben die Bohemiens immer
behauptek: Montmartre und Schwabing sind nichk Stadtteile, sondern Welk-

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Augustheft 1928 (XXXXI, 11)
 
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