Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 41,2.1928

DOI issue:
Heft 8 (Maiheft 1928)
DOI article:
Michel, Wilhelm: Deutsche Theaterprobleme der Gegenwart
DOI Page / Citation link:
https://doi.org/10.11588/diglit.8884#0111

DWork-Logo
Overview
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
Strömen, an das unbegreifliche steks sich erneuernde Geschehen. Weder unserer
Erbmasse noch unserer Emgesügtheik in den geschichtlichen Augenblick können
wir uns entschlagen. Warum sollen denn einem Menschen, dem die „Eume-
niden" oder die „Ankigone" wirklich und aktuell geworden sind, Dichkungen
von Brechk odcr Shaw weniger akkuell und wirklich sein? Gerade wenn
einer den großen Kamps der Griechen als gründendes Elemenk in sich erlebk
hak, wird er um so weniger aufhören wollen, sich dem heukigen Geschehen ge-
genüber lebendig zu verhalken. Gerade die Menschen mik der echken Be-
ziehung zur AnLike (und znr Klassik überhanpk) werden sich auch zu einem ech-
ken Leben mik dem JeHL nnd Hier verpflichkek sühlen. Was sich aus der Rück-
schau gökklich erweisk, war einmal jung und ungesicherk, war einmal kämpferisch
und zerstörend. Es gibk eine Treue zur Vergangenheik, eine Treue zum Festen
und Ewigen; aber auch die Treue zur Zeit ist mcnschenwürdig, schon des-
halb, weil keiner wissen kann, was die Gökter mik den Menschen vorhaben,
und ihr Werk doch an uns geschehen muß, ob es uns gesällk oder uichk.

*

Jch sprach jüngst mik eincm namhafken Theakerleiker. Er äußerte mir sein
kicfes Ungenügen am heutigen Theakerbekrieb und die Absichk, aus der Kulissen-
welk herauszugehen und sich einer „nützlichen Täkigkeit" zuzuwenden. (Meben-
bei: Wo solche Wvrke sallen, kann mik ziemlicher Sicherheik auf eine kies-
dringende Werkausfassung und aus besondere Begabung gcschlossen rverden;
denn nur der Oberflächling und der Dilektank sind gegen die Empfindung für
die Problemakik ihres Tuns gefeik.) Ich konnke diesem Künskler nur sagen:
Das Schicksal der Scheinwelken ist immer identisch mik dem Schicksal der
zugehörigen WirklichkeiL. Isk unser Theaker krank, so ijk die zugehörige Wirk-
lichkeit erst rechk krank. So einsach iß die Fluchk aus dem Schein in däs
Wesen nichk. Gerade weil unsere WirklichkeiL nichks taugt, ist ja unser Theater
problemakisch geworden. Darum verkauschk, wer sich unruhig vom einen zum
andern wirfk, nur einen Schein mik dem andern, eine Gespensterci mik der
andern. Das heißk aber auch, daß wir mik derselben Gewißheik aus cine Ge-
sundung unsrer „Schcinwelten" hossen können, mik der wir auf eine Gesun-
dung unsercr WirklichkeiL — nicht hosfen können, sondern hosfen müssen.
Zwar kann der Einzelne eine Zeiklang sehr wohl sern von der Kunst leben.
Aber es handelk sich uie um die Frage, ob man zum Leben Kunst brauchk
oder nicht. Wesenklich und enkscheidend ist nur, daß gesundes Leben von selbst
Kunst aus sich hervorkreibk, wie der Skrauch die Blüke. Zwar ist die Kunst
eine „Welt des Scheins". Aber ein Leben, das diesen Schein nichk mehr her-
vorbringt, ist im selbcn Sinne krank, wie ein Mensch, iu dem cs nichks Blü-
hendes, d. h. nichts Zdeenhafkes, nichks Glaubendes und Liebendes mehr gibk.
So ist die Kunst mik uusrer WirklichkeiL verbundeu. Das heißk ihre Nok
aufs erusteste ancrkenncu, aber auch das Zuversichklichste über ihr Wieder-
erstarkeu aussagen.
 
Annotationen