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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 41,2.1928

DOI Heft:
Heft 12 (Septemberheft 1928)
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Alverdes, Paul: Über neuere deutsche Epik
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https://doi.org/10.11588/diglit.8884#0436

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Radioanlagen, Flugmaschinen, Iazzband, Wohnungssuchende, Boxer, Pro-
stikuierle und sehr viel freie Liebe in ihren mannigsachen Spielarken vorkamen.
Auch einiger sozialpolikischer und polikischer Konstellationen überhaupk der
leHten fünf oder sieben Iahre war, übrigens nichk ohne Anmuk und WiHig-
keik, gedachk. Dies, sagke er abschließend, seien Gedichke, die uns ekwas an-
gingen, diese allein, sie seien der Geist der Zeik.

Sein Irrkum, welcher der Irrkum von vielen ist und nicht nur der Iüngslen
und Allerjüngsten unker uns, ist der, daß die Kunst kein anderes und kein
höheres Ziel kenne, als das jeweilige Verhalken einer jeweiligen Gesellschafk
und den jeweiligen Skand ihrer Techniken auszudrücken. Freilich gibk es jenen
Geist der Zeik durchaus, jene räkselvolle und unerklärliche, ofk wie über Nücht
gekommene Gleichheik oder doch AhnlichkeiL aller Gedanken und Äußerungen
der Volks- oder derMenschenseele überhaupk, und es soll seiner noch versuchs-
weise gedachk werden. Aber der iß ja mik Nvtwendigkeik in jedem Kunstwerk
inne, soferne es aus der Wahrheik und NoLwendigkeik geschasfen wurde, und
es ist nichks so überflüssig, als ihn erst zu fordern; und die nichk nokwendigen,
unwahrhafkigen Produkke, was gehen sie uns denn weiter an? Gebräuche,
Sikken und Techniken aber, so wenig sie auch ohne diesen Geist der Zeiken zu
denken wären, sie sind doch immer nur dessen periphere Erscheinungen, sie
liefern allenfalls, vorzüglich den Epikern und den DramaLikern, den Stoff,
und je mehr einer sich zutrauk, desto lieber wird er sich seiner bedienen.
Aber es ist kein Zweifel, daß man auch ohne ihn auszukommen hak. Von
der Lyrik, als der unstosflichsten, der Musik am innigsten angmäherten Dich-
Lungsart sollke sich das eigenklich von selbst verstehen. Aber gerade an den
Lyriker stellk der nichts als zeitgemäße Kritiker mik Vorliebe die For-
derung nach nichks als Zeikgemäßheit in seinem Sinne. Indes als Verlaine
luno blsiwlio" schrieb, gab es schon Gaslakernen genug, die den
Mond wegblendeken, aber er kümmerke sich nichk darum, und doch ist
gerade in diesem seinem Gedichk der Geist seiner Zeik. Es häkte in keinem
andern Iahrhunderk so geschrieben werden können — aber man wird es noch
sehr viele Iahrhunderke lang verstehen und auswendig lernen, während Iazz-
band-Gedichke und Rennfahrer-Songs, soferne sie nichks als das sind, uns
schou sehr bald langweilen werden. Alle Gedichke und Romane, deren Thema
lediglich die gesellschafkliche und sittliche ProblemaLik ihres Zeikalkers ist, oder
eines bestimmken Krieges, einer ganz bestimmken Revolukion, sind uns heuke
schon völlig unlesbar. Sie sind Staub und Makulakur wie alle Pamphleke,
Streik- und Schmähschrifken, Spotkgedichke, Bußpredigten und Sakiren, wie
es auch die kiefsinnigsten Lei'Lartikel von heuke schon nach drei Wochen oder
allenfalls drei Iahren sein müssen, eben weil uns schon sehr bald alle Vor-
ausseHungen für das Begreifen fehlen müssen. Aber die Odyssee kann man
immer wieder lesen, wie alle großen Epen der Welklikerakur, eben weil ihre
Dichker nichk vorausseHken, daß ihre Enkel schon sich bei der LekLüre gewisser-
maßen zu den Gespenstern der Großväter begaben und mik ihnen über ver-
schollene GespenstersaHung und Gespensterbrauch diskukierken; sie gaben Men-
schengestalk und Menschenherz, und das ist bei aller WandelbarkeiL im ein-
zelnen so ewig wie schließlich ekwas unter Menschen ewig genannt werden
darf. Sie gaben auch die Haarkrachk, Handschuhe, Gürtel und Stiefel, gewiß,

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