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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 41,2.1928

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Heft 12 (Septemberheft 1928)
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Tribüne
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https://doi.org/10.11588/diglit.8884#0461

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Wir kommen zum Thema: Der Entfernung einer dem Bearbeiter oder dem Autor
selbst mißliebig getoordenen Gestalt. So ist unglaubllchertoeise neuerdings versucht
worden, den Lesern „Soll und Haben" ohne Beitel Jtzig zu servieren! So hat es
Rudolf Hans Bartsch fertiggebracht, auS seiner Erzählung „i6ts8. Als Österreich
zerfiel" den Gegenspieler, den jüdlschen Journalisten Hirsch, spurlos verschwinden
zu lassen. Und dasselbe hat Thomas Mann mit den „Betrachtungen" ge-
macht: er hat rn'cht nur einen, sondern zwei Gegenspieler nach Möglichkeit eliminiert,
nämlich Nomain Rolland und Heinrich Mann. Das verstößt gegen das Gesetz
der Erhaltung der Energie, aufs Literarische angewandt. Denn den gestrichenen,
nicht den gebliebenen Seiten verdankte seinerzeit das Werk seine außerordentliche
Resonanz. Die gestrichenen Seiten, nicht die gebliebenen, sind die stärksten Stellen.
Was schon beim tendenzlosen Kunstwerk nicht unbedenklich ist, erweist sich im Falle
eines Thesenwerkes als innerlich unmöglich.

Der beste Beweis hiefür ist der Versuch oon Gegenproben. Jch sehe ab von der
scheinbar am nächsten liegenden: Mann hätte sein Werk in umgekehrter Tendenz
verändert; vder Momme Nissen hätte auS einem ursprünglich katholischen „Rem-
brandt als Erzieher" einen evangelischen gemacht. Jn beiden Fällen würden ledig-
lich die Parteien, die jetzt zischen, applaudieren, und umgekehrt. Damit kommen wir
nicht weiter. Darum handelt es sich aber auch gar nicht. Es handelt sich um eine
grundsätzliche Frage, die mit irgendwelcher Partei überhaupt nichts zn schaffen hat.
Nehmen wir den umgekehrten Fall an in bezug nicht auf die Standpunkte, sondern
auf die AuSgaben. Nehmen wir an, seit i8go hätten wir „Rembrandt als Er-
zieher" in Momme Nissens Überarbeitung und wüßten nichts von der Urausgabe:
plötzlich käme die Ausgabe von i6go heraus: sie wäre eine Sensation, und ich
glaube nicht, daß ein urteilsfähiger Leser auch nur einen Augenblick zwifchen bei-
den AuSgaben schwanken könnte.

Nehmen wir an, wir besäßen seit 1916 die „Betrachtungen" nur in ihrer jetzigen,
stark gekürzten Form. Nehmen wir weiter an, ThomaS Mann gäbe sie jetzt in
seinen Gesammelken Werken ungekürzt heraus, mit der Begründung, seit diesen.
10 Jahren habe sowohl er, als auch Rolland und Heinrich Mann der damaligen Zeit-
stimmung gegenüber eine solche Distanz gewonnen, daß er es für angezeigt halte,
die damals auS Rücksicht zurückgehaltenen Stellen nunmehr im Zusammenhange des
Urtextes zu bringen, — ich frage: gibt eS einen Leser von Urteil, der nicht sagen
würde: „Jetzt v e r st e h e ich das Buch erst richtig! Jetzt hat das Gesicht erst
seine Nase!" Jch hätte es elegant gefunden, wenn Thomas Mann, gerade zum
Zeichen der Distanz, di'e er dem Damals gegenüber gewonnen hat, die vollständige
Ausgabe den genannten beiden Gegenspielern in einer Widmung freundschaftlich
zugeeignet hätte. Aber aus einem so ausgesprochenen Thesen-Werke, wie die „Be-
trachtungen" von 1918 nun einmal sind, skillschwei'gend gerade diejenigen z6 Seiten
zu streichen, wo diese Thesen am leidenschaftlichsten, am kompromißlosesten aus-
gesprochen werden: „hier stehe ich, ich kann nichk anders" — das halte ich
unter gar keinen Umständen für zulässig, und ich finde, die Leute, die sich über die
Verstümmelung der „Betrachtungen" aufregten, hatten vor dem Autor und dem
Werk mehr Respekt, als die andern, die sich dkese stillschweigende Berstümmelung
gefallen lassen oder sie gar verteidigen, mehr Respekt, als dieser Autor selbst, der
sie stillfchwelgend vornahm.

„Aber Thomas Mann stehk eben in wesentlichen Dingen nicht mehr auf dem Stand-
punkte von igi8!" Das verlangt kein Mensch von ihm! Jch glaube, die Wenig-
sten von uns stehen in allen wesentlichen Dingen noch auf dem Standpunkte von
1918. „Dann kann man ihm doch unmöglich zumuten, das Buch in der Form
von 1918 neu aufzulegen! Was hätte er denn tun sollen?"

Was er hätte tun sollen? Er hätte dreierlei tun können: enkweder die „Betrachtun-

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