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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 41,2.1928

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Heft 12 (Septemberheft 1928)
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https://doi.org/10.11588/diglit.8884#0481

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Matisse seine das Charakteristische der
Erscheinung stark übertreibenden Studien
gezeigt und von seinec Lehrtätigkeit in
seiner Schule erzählt, die sich in derselben
Richtung bewegte. 1917 hatte ich in
Adols Hölzel einen überzeugten Apostel
der nenen Knnst kennengelernt und mich
ehrlich bemüht, seinen Standpunkt zu
verstehen. Vor neun Jahren sah ich
eine, allerdingg sehr problematische Ans-
stellung „neuer" Kunst im Züricher
Knnsthaus, die damals vier Propheten
Anlaß gah, in einer Abendveranstaltung
im Kunsthaus nacheinander Vorträge
über die neue Kunst zu halten, deren
Kern war, daß von jetzt ab das Bild
des Augeneindruckes in der Kunst ein
überwundener Standpunkt sei und nur
noch das geistige Weltbilö Berechtignng
habe. Diese und viele verwandte Ein-
drücke und Anregungen sind im Laufe
der letzten f^ahrzehnte an mir vorüber-
gegangen, ohne meine eingangs geschil-
derte Stellungnahme zum „Neuen" in
der Kunst zu verändern.

Jndem ich mir über den Ursprung der
starken Wirknng, die Noldes Bilder auf
mich ausübten, klar zu werden suche,
muß ich zurückdenken an weit zurück-
liegende verwandte Eindrücke, die ich von
bildlichen Darstellungen künstlerisch ver-
anlagter Kinder empfangen hatte. Vor
etwa dreißig Jahren war mir die Kin-
derausstellung im Lotit pslm'8 in Paris
viel eigenartiger und interessanter er-
schienen als die Ausstellung der Künstler
im gegenüberliegenden Orsncl pslsis. Es
scheint mir der Malerei Noldes eine
bewußte Rückkehr zu der instinktiven
Ausdrucksweise des Kindes zugrunde
zu liegen, bei der die Empfindung eine
innerlich geformte Vorstellung zum Aus-
druck bringt, die intensiver wirkt als das
auf Beobachtung der Natur gegründete
Bild des realistisch eingestellten Künst-
lers. Verwandte interesfante Ausdrucks-
bestrebungen hatte ich schon früher in
Paris und i'n der Schweiz gesehen und
habe den Eindruck gewonnen, daß hier
für viele künstlerische Begabungen erwei-
terte Ausdrucksmöglichkeiten liegen, deren
Stärke im Zurückdrängen der beob-
achtenden Verstandestätigkeit hinter die
instinktive, innerliche künstlerische Vor-
stellung beruht. Das programmatisch
„Neue" in der Kunst will sich mir aber
damit immer noch nicht erschließen.
„Neu" erscheint mir nur die künstlerische

/si2

Begabung Noldes, der aus den Eindrük-
ken der Zeit, in der er lebt, die ihm
entsprechenden Ausdrucksmöglichkeiten
entnimmt. Für mich ergibt sich aus dem
vorstehcnd Geschilderten die Lehre, jeder
neuen Erscheinung im künstlerischen
Schasfen möglichst objektiv aufnahme-
bereit zu begegnen. Was mich früher
bei Nolde ahgestoßen hatte, entsprang
dem Vergleich mit einem vorgefaßten
realistischen Naturbild. Nachdem ich ein-
mal die starke Wirkung dieser Bilder
gefühlt hatte, störte mich auch nichts
mehr, was mir früher den Eindruck
bceinträchtigt hätte, wie etwa organifche
Unmöglichkeiten in der Zeichnung. Der-
artiges wirkte auf mich jetzt einfach
als „so empfunden", wie es mir stets
bei künstlerischen Kinderarbeiten gegan-
gen war, bei denen ich auch nie daran
gedacht hatte, die anatomische Richtig-
keit zu vermissen.

Jm Zusammenhang mit dem künstleri-
schen Ausdruck des KindeS muß ich an
manches denken, das soeben in der Öf-
fentlichkeit über die künstlerische Erzie-
hung des Kindes, über Kunst-Erziehung
und über neue Kunsttheorien im allge-
meinen vorgebracht wnrde. Die heutige
Zerrissenheit der Kunst von ihrer äußer-
sten Rechten bis zur äußersten Linken
(Meier-Graefe: „Gar manche dieser Wil-
den sind im Grunde schlimmere Akade-
miker als alle Anton von Werner zusam-
men.") scheint mir dazu beizutragen, das
Jnteresse der Allgemeinheit immer mehr
von der heutigen Kunst zu entfernen und
den Künstler immer mehr auS dem Zu-
sammenhang mit dem Leben seiner Zeit
hinauszudrängen. Ein Kunstschriftsteller
erklärte mir vor einigen Jahren seine
Anschauung über das Verhältnis zwi-
schen dem Manne der Kunstwissenschaft
und dem Künstler in der Weise, daß der
erstere dem Mathematiker gleiche, der
die allgemeinen Gesetze finde, nach denen
der letztere, dem Uhrmacher gleich, seine
Uhren zusammensetze. Für die ange-
wandte Kunst mag das vielleicht zutref-
fen. Für die freie Kunst dagcgen habe
ich ni'cht denselben Eindruck. Für sie
scheint mir die Kunstwissenschaft in den
vergangenen Jahrzehnten eher eine Ver-
mehrung der bestehenden Verwirrung
als Klärung und Förderung gebracht zu
haben. Vielleicht werden die vorstehend
erwähnten neuen Wege künstlerischer
Erziehung gerade dadurch, daß sie von
 
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