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Kunstwart und Kulturwart — 28,4.1915

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Heft 22 (2. Augustheft 1915)
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Vom Heute fürs Morgen
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https://doi.org/10.11588/diglit.14421#0139

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Voin tzeute fürs Morgen

Woher der Hatz?

Eine neutrale Stimme

as hat rnan nicht alles in den
letzten Monaten gehört und ge-
lesen über Völkerhaß! Aber wer
hätte vor einem Aahr behaupten dür-
sen, daß die Völker Europas ein-
ander wirklich haßten? Dann muß
doch irgend etwas nicht in Ordnung
sein. Es ist doch ausgeschlossen, daß
innerhalb nicht einmal eines Iahres
eine solche Umwandlung in der
geistigen Versassung der
Völker gekommen sein kann. Ent-
weder — der heutige Völkerhaß be-
steht in Wirklichkeit nicht in dem
Maße, wie fast jeder glaubt, oder
man hat sich srüher allgemein
gründlich getäuscht in den Gesinnun-
gen der Völker.

Können die Millionen sozialisti-
scher Arbeiter aller Länder sich has-
sen? Können die vielen Tausende
von Gelehrten, Künstlern, Kultur-
förderern, Volkserziehern aller LLn-
der sich nun aus einmal wirklich
hassen, nachdem sie schon seit Iah-
ren miteinander gekämpft, gearbei-
tet, vielleicht auch gelitten haben für
dieselben Ideale? Wie könnten die
vielen Millionen Deutscher, Franzo-
sen, Engländer, Russen usw., die
einander niemals gesehen haben, die
niemals etwas anderes wünschten,
als in ihrem eigenen Vaterlande zu
leben und zu sterben, sich plötzlich
hassen?

Iede Regierung hat's erklärt:
unser Land ist angegrifsen; unsere
Freiheit und Selbständigkeit, unsere
Kultur wird bedroht vom Feinde,
deshalb müssen wir uns wehren!

So liest man in den Zeitungen,
und in unzähligen Schriften, s o liest
es jedes Volk in seinen Zei-
tungen.

Wo ist nun eigentlich der Haß?

Ich sehe überall nur ein notwendiges
Muß sür alle Völker von dem
Augenblicke an, da der Krieg ent-
brannt war. Haben aber die „V ö l -
ker" den Krieg erklärt? Nein, und
damit kann auch nicht ein Völ-
kerhaß die Ursache des Krieges
sein. Ich meine: in jedem Lande
hätten die Gebildeten, die vor dem
Kriege einen Völkerhaß geleugnet
haben, weil er eben nicht da war,
beim Ausbruch des Krieges und
nachher nicht so viel schreiben und
reden dürfen über etwas, woran sie
bis dahin nicht glaubten. Aber vom
ersten August des vorigen Iahres
ab ist immer und überall geredet
und geschrieben über Völkerhaß, bis
man das Ungeheuerlichste, was für
die Kultur denkbar wäre, geglaubt
hat: einen Haß zwischen den Kul-
turvölkern.

Wieder eine merkwürdige Er-
scheinung; sragt man jemanden:
Hassest du die anderen? so wird
die Antwort lauten: Nein, aber die
andern hassen uns. Falls nun
aber die andern, wenn man sie
sragt, die gleiche Antwort geben?
Das ist's eben: Niemand haßt, aber
jeder wird gehaßt. Das bedeutet:
Iedes Volk suggeriert sich
selbst, daß es gehaßt wird.
Es ist hier eine Massensuggestion in
allen LLndern. Nnd die Schuld
daran? Die tragen meines Erach-
tens vor allem die geistigen Führer
in der Presse. Ohne Presse würde
von einem Völkerhaß nicht die Rede
sein können. Damit will ich nicht
bedauern, daß wir eine Presse haben.
Aber wohl, daß es so gar vielen
unserer geistigen Führer mangelte
an etwas, das eigentlich Gemeingut
aller Gebildeten sein sollte: Men-
schenkenntnis und Selbster-
kenntnis. Das Fehlen dieser
 
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