Bücher der Zeit 6
Nußland
^^.ielleicht liegen sür wenige Länder die „Buchverhältnisse" so günstig
( wie für Rußland. Wir haben eine recht umsängliche und eindring-
^^^liche Literatur über das Zarenreich. Und zugleich ist sie tatsächlich
geeignet, nicht nur irgend etwas Fremdartiges kennen zu lehren, sondern
gleichsam zu einem politisch-soziologischen Lehrgang die Grundlage zu
bilden. Da allerdings vieles davon unbedingt kritische Lesung erfordert,
mußte die folgende Äbersicht mit nicht wenigen scharfen Schlagworten ver-
sehen werden. Auf größerem Raum wäre das zu vermeiden, — hier muß
ich das innere freundliche Entgegenkommen des Lesers erbitten. — Wer
einen geschichtlichen Äberblick nicht entbehren mag, findet ihn in den
Weltgeschichten (Lindner, Schiller), aber auch in kleineren Schriften (Reeb,
Sammlung Göschen); auch Masaryk und Hoetzsch geben in ihren größeren
Werken das Wesentliche aus der Vergangenheit. Von Geographiebüchern
seien Philippsons Schilderung (Sammlung Göschen), Baedekers Führer
und, als geistvolle, das ganze Kulturleben belichtende Studie Hettners
„Europäisches Rußland^ genannt. Von da aus kann man nun tieser
dringen. Will man einen bequemen Weg, so nimmt man den des Reisenden;
er führt von Ort zu Ort, von Landschaft zu Landschast, man betrachtet die
Bevölkerung, die Baulichkeiten, das Bauern- und Städteleben, die Kirch-
gänger, die Begräbnisse, die Volksfeste, die Eisenbahnen, eine Dampfer-
fahrt, die Gasthöfe, einige Fabriken, hie und da den landwirtschastlichen
Betrieb, eine Gerichtsverhandlung, den alten und jungen Adel, alte kleine
und neue große Städte, die Steppenvölker, Dissidenten, Altgläubige, die
Dorfbader und die Hochzeitgebräuche, und alles mehr nach Belieben, ohne
Ordnung und System. So schildert Sir D. M. Wallace Rußland im
ersten Band seines Werkes; eine etwas zu andauernd witzige Sprache macht
manchem das Lesen der 800 Seiten schwer, aber manchem auch leicht; jeden-
falls bietet er zwar ein Reisetagebuch, aber ein solches mit eingeslochtenen
Erläuterungen; er hat Rußland nicht nur offenen, sehr ofsenen Auges be-
reist, sondern er versteht auch russisch, hat Bücher gelesen, hat zahlreiche
Kenner in langen Gesprächen ausgeforscht, kennt Gesetz, Geschichte und
Lebensordnung Rußlands; mit andern Worten: er trug als Reisender oder
wenigstens bei der Niederschrift seines Werkes „Ordnung und System" in
sich und läßt den Leser davon Nutzen ziehen. Der zweite Band des Werkes
ist mehr Historisch-soziologische Schilderung als Augenblickbilderbuch. Ma-
saryk zwar sagt hiervon durchaus tresfend in seinen „Ouellenangaben zum
Studium Rußlands^ (S. (86 s. Werks), die nicht nur die Gegenwart be-
treffen, sondern auch über die Entwicklunggeschichte der einzelnen Gebiete
vortrefsliche Auskunft geben: „Wallace ist konservativ, ohne Einsicht in
das Geistesleben." Einige Kapitel sind aber auch in diesem Band vor-
trefslich. Zu beachten ist die Iahreszahl des Werkes: (905. Als Reisender
hat auch M. L. Schlesinger das Zarenreich kennen gelernt; sein Buch
„Rußland im XX. Iahrhundert" ist bei weitem nicht so gründlich und ge-
diegen, auch nicht so inhaltreich wie Wallaces berühmtes Werk; manches
darin ist nur Anekdote, öfter stört eine in lässiger Sprache vorgebrachte,
tendenziöse Stellungnahme des Versassers zu wichtigen Fragen; gewisse
Einzelheiten lernt man aber durch ihn gut kennen (die Duma, die Wolga-
gegend), vor allem hat er osfnen Blick sür das Landschastliche und sür die
Nußland
^^.ielleicht liegen sür wenige Länder die „Buchverhältnisse" so günstig
( wie für Rußland. Wir haben eine recht umsängliche und eindring-
^^^liche Literatur über das Zarenreich. Und zugleich ist sie tatsächlich
geeignet, nicht nur irgend etwas Fremdartiges kennen zu lehren, sondern
gleichsam zu einem politisch-soziologischen Lehrgang die Grundlage zu
bilden. Da allerdings vieles davon unbedingt kritische Lesung erfordert,
mußte die folgende Äbersicht mit nicht wenigen scharfen Schlagworten ver-
sehen werden. Auf größerem Raum wäre das zu vermeiden, — hier muß
ich das innere freundliche Entgegenkommen des Lesers erbitten. — Wer
einen geschichtlichen Äberblick nicht entbehren mag, findet ihn in den
Weltgeschichten (Lindner, Schiller), aber auch in kleineren Schriften (Reeb,
Sammlung Göschen); auch Masaryk und Hoetzsch geben in ihren größeren
Werken das Wesentliche aus der Vergangenheit. Von Geographiebüchern
seien Philippsons Schilderung (Sammlung Göschen), Baedekers Führer
und, als geistvolle, das ganze Kulturleben belichtende Studie Hettners
„Europäisches Rußland^ genannt. Von da aus kann man nun tieser
dringen. Will man einen bequemen Weg, so nimmt man den des Reisenden;
er führt von Ort zu Ort, von Landschaft zu Landschast, man betrachtet die
Bevölkerung, die Baulichkeiten, das Bauern- und Städteleben, die Kirch-
gänger, die Begräbnisse, die Volksfeste, die Eisenbahnen, eine Dampfer-
fahrt, die Gasthöfe, einige Fabriken, hie und da den landwirtschastlichen
Betrieb, eine Gerichtsverhandlung, den alten und jungen Adel, alte kleine
und neue große Städte, die Steppenvölker, Dissidenten, Altgläubige, die
Dorfbader und die Hochzeitgebräuche, und alles mehr nach Belieben, ohne
Ordnung und System. So schildert Sir D. M. Wallace Rußland im
ersten Band seines Werkes; eine etwas zu andauernd witzige Sprache macht
manchem das Lesen der 800 Seiten schwer, aber manchem auch leicht; jeden-
falls bietet er zwar ein Reisetagebuch, aber ein solches mit eingeslochtenen
Erläuterungen; er hat Rußland nicht nur offenen, sehr ofsenen Auges be-
reist, sondern er versteht auch russisch, hat Bücher gelesen, hat zahlreiche
Kenner in langen Gesprächen ausgeforscht, kennt Gesetz, Geschichte und
Lebensordnung Rußlands; mit andern Worten: er trug als Reisender oder
wenigstens bei der Niederschrift seines Werkes „Ordnung und System" in
sich und läßt den Leser davon Nutzen ziehen. Der zweite Band des Werkes
ist mehr Historisch-soziologische Schilderung als Augenblickbilderbuch. Ma-
saryk zwar sagt hiervon durchaus tresfend in seinen „Ouellenangaben zum
Studium Rußlands^ (S. (86 s. Werks), die nicht nur die Gegenwart be-
treffen, sondern auch über die Entwicklunggeschichte der einzelnen Gebiete
vortrefsliche Auskunft geben: „Wallace ist konservativ, ohne Einsicht in
das Geistesleben." Einige Kapitel sind aber auch in diesem Band vor-
trefslich. Zu beachten ist die Iahreszahl des Werkes: (905. Als Reisender
hat auch M. L. Schlesinger das Zarenreich kennen gelernt; sein Buch
„Rußland im XX. Iahrhundert" ist bei weitem nicht so gründlich und ge-
diegen, auch nicht so inhaltreich wie Wallaces berühmtes Werk; manches
darin ist nur Anekdote, öfter stört eine in lässiger Sprache vorgebrachte,
tendenziöse Stellungnahme des Versassers zu wichtigen Fragen; gewisse
Einzelheiten lernt man aber durch ihn gut kennen (die Duma, die Wolga-
gegend), vor allem hat er osfnen Blick sür das Landschastliche und sür die