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Kunstwart und Kulturwart — 28,4.1915

DOI Heft:
Heft 23 (1. Septemberheft 1915)
DOI Artikel:
Schumann, Wolfgang: Bücher der Zeit, 5: Allgemeines zum Studium fremder Länder
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https://doi.org/10.11588/diglit.14421#0176

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gering ist bei uns die Kenntnis fast aller russischen Kulturerscheinungen, der
Kirche, der Verfassung, des Rechts, der Bevölkerung, der Kunst, der Geo-
graphie, der sozialen und der Frauenfragen, der Parteiverhältnisse! AnderK
steht es wohl nur mit dem Schrifttum des V- und 20. Iahrhunderts, mit der
Volkswirtschaft, mit den deutschsprechenden russischen LandesteileN; endlich
kennen wir auch noch zu Hunderten die „rusfischen Greuel", die Polizei--
willkür, die Ochrana- und Pogromwirtschast, die finnische Politik Peters-
burgs, die Revolution, alles dies aber mehr durch einzelne Schilderungen
nnd mehr in den wüstesten Erscheinungen als in seinen geschichtlichen und
politischen Begründungen und Znsammenhängen. Und doch ermöglicht es
das deutsche Schristtum über Rußland seit einigen Iahren, in ganz anderer
Weise hier einzudringen. Gerade das Zarenreich ist in politischer Hinsicht
aber besonders aufschlußreich. Es ist, als ob das Gewebe seiner politischen
Kräste ofsener daliege nls etwa in Österreich oder Frankreich. Mag dies
durch das minder beherrschte Temperament der Slawen oder durch ihre
geringere Angst vor der öffentlichen Meinung Europas (vor die russische
Außerungen so selten gelangen!) bedingt sein, jedenfalls erhellt sich dem-
jenigen Rußlands Tun ganz überraschend, der in sein Wesen eindringt.
Und eben dies ist wohl unerläßlich, wenn man nicht nur am Stammtisch oder
im Tageblatt kannegießenr und kannegießern hören, nein, wenn man poli-
tisch denken und vielleicht gar politisch handeln will. Nur gerade die „äußere
Politik" Rußlands zur Kenntnis zu nehmen, kann nicht genügen. Auss
engste ist die äußere Politik Rußlands mit den inneren Zuständen verknüpft.
Äberhaupt, aus den politischen Handlungen einer Regierung läßt sich wohl
deren Richtung ablesen, aber nicht deren Beweggrund und noch weniger
ihre mutmaßliche Intensität, Dauer, Krast und Notwendigkeit* Wir haben
etwa in der letzten Zeit ost gehört, daß Rußland Konstantinopel „haben
muß". Nnd dies ist ein Hauptpunkt russischen Strebens, der tief in den
verschiedensten inneren Wesenszügen begründet ist; wer hier nur äußerliche
„Notwendigkeiten" abschätzen würde, ginge gewiß fehl in der Schätzung
der Kraft dieses Strebens. Zwei Gründe werden in erster Linie genannt:
der wirtschaftliche und der des allgemeinen imperialistischen Ausdehnung-
dranges. Man fieht fofort: beide bedürfen der Erläuterung dringend.
Welche Wirtfchaftzweige bedürfen Konstantinopels? welche Interessen-
tenkreise drängen dahin (ob nämlich zum Beispiel die sibirische Bauernschaft
dahindrängt, ist wohl zweifelhaft) ? Wie stark sind diese Kreise, wie
groß ist ihr völkischer Anhang, ihre politische Macht? Nnd was ist es
mit der allgemeinen Neigung zur Expansion? Wer und wieviele Leute
sind ihre Träger? welches ist ihr Ziek? hat sie überhaupt ein „Ziel" oder
ist sie „blind"? Wie setzt solcher Drang sich in politischen Einfluß um?
Ls wird gewifser Studien bedürfen, um nur die Tatsachen zu finden,
die mit den Worten „wirtfchaftliche und imperialistische Expansion" nur sehr
oberflächlich umrifsen sind. Nun aber setzt erst die Erörterung ein; andre
nämlich bestreiten das Vorhandensein solcher Gründe und führen statt dessen
geschichtliche,religiös-kirchliche undrassengefühlmäßige(panslawistische)Beweg-
gründe ins Feld, welche Rußland nötigen, Konstantinopels Besitz zu er-

^ Ich sage „mutmaßliche", da die politischen Handlungen ihrem Wesen
nach nie bis zum letzten Grade von Deutlichkeit bestimmt werden können, son-
dern psychologisch, soziologisch und geschichtlich stets in gewissem Grade irratio-
ual verlaufen.
 
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