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Kunstwart und Kulturwart — 36,2.1923

DOI Heft:
Heft 8 (Maiheft 1923)
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Hartwig, Ernst: Von Wilhelm Heinrich Riehl
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https://doi.org/10.11588/diglit.14438#0085

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Der Lifer, mit welchem die moderne Baupolizei ihr Interdikt gegen die
Lrker seit mehr nls hundert Iahren gehandhabt hat und noch handhabL,
ist höchst charakteristisch. Die äußerliche Gleichmacherei der Iäuser hängt
eng zusammen mit der Nivellierung des Staates, der Gesellschaft, der
Familie, die einen Grundzug der Bestrebungen des achtzehnten und teilweise
auch noch des neunzehnten Iahrhunderts bildet. Damit die tzäuserfronten
glatt nach dem Lineal abgeschnitten seien und dem Nachbar die Aussicht
nicht verdorben werde, rasiert man die Erker, die ein organisches, notwen-
diges Produkt des deutschen Familienlebens geworden sind! Als ob die
Häuser da seien um der Aussicht willen, als ob das Haus von außen nach
innen gebaut werde und nicht vielmehr von innen nach außen!

Mit diesem Sinne bin ich in das Zentrum des vorliegenden Kapitels
gekommen. Die kunstgeschichtliche Tatsache, daß das Mittelalter Häuser
und Burgen und Kirchen von innen heraus gebaut hat, die Kußeren Formen
und Maße nach dem Bedürfnisse des Innern, nach den praktischen Zwecken
des Hauses frei gestaltend, während wir als rechte Doktrinäre schablonenweise
von außen nach innen bauen: diese kunstgeschichtliche Tatsache müssen wir
als in der entsprechenden sozialen wurzelnd erkennen.

Wir bauen auch in der Gesellschaft, in der Familie symmetrisch, mecha--
nisch von außen nach innen, statt organisch von innen nach außen. Darum
helfen alle Experimente nichts, einen modernen, wirklich lebensfähigen Stil
sür unsere Häuserbauten zu finden. Der eine Baumeister probierts mit der
Gotik, der andere mit der Renaissance, ein dritter mit dem griechisch-römi«
schen, ein vierter mit dem byzantinischen SLil, ein fünfter gar mit dem Zopf.
Es gibt aber immer nur neu zusammengesetzte Häuserdekorationen, keine
wirklich neuen Häuser. Das architektonische Haus der Zukunft muß von
innen heraus gebaut werden, wie das soziale. Schafft erst die neue Familie,
dann wird diese Familie sich selber ihr Haus bilden, — „anleiben".

Wenn also einmal unsere Salons wieder veröden, dagegen aber eine
allgemeine Sehnsucht nach einer wirklichen Familienhalle, nach stattlichen
Hausfluren, Höfen und Galerien, vor allem aber nach den traulichen Erkern
empfunden wird, das heißt, wenn wir wieder einmal neue und feste Sitte
des Hauses gewonnen Haben, dann wird auch ein neuer, organischer bür--
gerlicher Baustil da sein, und die Baumeister werden gar nicht wissen, wie
sie zu demselben gekommen sind. Sie sind dann auch nicht zu ihm gekommen,
sondern er zu ihnen. Wie können sie aber jetzt tzäuser Don innen heraus
bauen, wo die Mode alle architektonisch entwicklungsfähigen Innenräume
des Hauses für überslüssig erklärt?

Viele werden sich nicht einmal einen klaren Begriff machen können von
dem, was es heißt, von „innen heraus" zu bauen; andere werden befürchten,
daß dabei in der Regel ein abenteuerliches, für das künstlerische Auge
monströses Ganze zutag kommen wird. Ich verweise aber nur auf die
schönsten Muster echter deutscher Bauernhäuser, wie sie sich in den Hochge«
birgen finden und bereits in Ider Kunstarchitektur überall nachgeahmt
werden. Diese sogenannten Schweizerhäuser sind in ihrer Grundlage rein
nach Rücksichten der häuslichen Zweckmäßigkeit von innen heraus gebaut
und doch sind sie bei dem im Volk lebenden, in seiner Sitte geregelten naiven
Schönheitssinn von selber so schön geworden, wie ein Volkslied schön, wie
eine Volkstracht malerisch wird.
 
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