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Kunstwart und Kulturwart — 36,2.1923

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Heft 9 (Juniheft 1923)
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Vom Heute fürs Morgen
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https://doi.org/10.11588/diglit.14438#0135

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Vom Heute fürs Morgen

Dante und Goethe

^Aus Steffens Buch „Die Krisis
im Leben des Künstlers" (Seldwyla--
Verlag, Vern) entnehmen wir die fol-
genden Zeilen. Diese schöne, fesselnd
und fließend geschriebene Aufsatzsamm-
lung, welche außer dem Titelthema
Dante und Goethe, Gotthelf, Keller,
Meyer, Spitteler, Dostojewski, Tagore,
Lxpressionismus u. a. behandelt, emp-
fehlen wir der Aufmerksamkeit unserer
Leser besonders. Der Verfasser steht
Rudolf Steiner und der „Anthroposo-
phie" nahe, spricht jedoch meist ge-
meinverständlich. K.-L.^

ine aus der Anzerstörbarkeit der
menschlichen (Lntelechie beruhende,
heitere Feierlichkeit waltet in der Dich-
tung Goethes. Iede Person in irgend-
einem Drama oder Roman, und wär
es die geringste, ist peshalb, weil sie
eine Ichheit ist, für die Ganzheit un-
entbehrlich. Sie fügt sich durch die
Freiheit als Notwendiges ein. Gerade
weil sie so verschiedene Individuen sind,
stimmt das Allgemeine. Ls braucht
nicht mehr durch einen Weltmonarchen
verwirklicht zu werden.

Bei Dante sind die Sündensack-
gassen voneinander geschieden uud über
der Hölle wölbt sich eine sternenlose
Nacht. Bei Goethe scheint die Sonne
über Gute und Böse. Ihm ist nie-
mals besonders viel daran gelegen, das
Moralische in den Vordergrund zu
stellen, sondern die Lntelechie, und zu
dieser hat der Geist auf jeden Fall
Zutritt. Goethe sieht im Faust auf
etwas anderes als auf die Sünde,
nämlich auf das Werden und Wachsen
des Wesenskernes. Hätte Faust zu
Dantes Zeit gelebt, so wäre er in ir-
gendeinen Kreis, zu Gotteslästerern,
Ruhmsüchtigen, Sinnenschlemmern ge-
setzt worden, schon des Dogmas we-
gen, das er beiseite schiebt, und würde
niemals über den Reigen der Kirchen-
väter hinaus, zum Anblick des Aller-
heiligsten, gekommen sein, selbst mit
Hilfe Beatrices nicht. Gretchen lehrt,
wie man heilig wird trotz der Schuld.
Sie lehrt es, indem sie liebt. Beatrice
hält Dante, bevor er in das himm-
lische Paradies emporsteigen darf, eine

Strafrede. Aber gerade daß Dante
sie aushält, macht ihn groß.

„Ich fühlte so zerknirscht mich und zer-
schlagen,

Daß meine Stimme nicht als Laut
zur Kehle

Den Weg sich brach — kein Wörtchen
konnt ich sagen."

Wir fühlen unsere Freiheit, wenn
wir uns in die Geistesart Goethes
vertiefen, wir werden im Eigensten
produktiv, wir wecken uns selber zur
Neugeburt. Nnd wir empfinden unsre
Begrenzung, wenn wir Dante zum
Führer wählen, wir wissen uns ge«
sangen, wir möchten absterben. Die
Kräfte, die Dante verleiht, sühren uns
zu dem, was die Seelen nach dem
Tod erleben, zu Abbüßung und Ab-
ödung, zu der Bestrafung des Bösen
und der Belohnung des Guten, wir
preisen die Toten selig oder verdam-
men sie, je nach ihren Taten. Durch
die Nachfolge Goethes aber wird der
Wille und die Lust in uns geweckt,
die Geister zu erlösen, ohne viel nach
ihrer Schuld und Nnschuld zu fragen.
Ls ist allerdings leichter, durch die
Hölle als Richtender, denn als Hel-
fender zu schreiten. Zum Helfen müs-
sen wir uns aktiv bis ins Innerste
erhalten.

Das Labyrinth

^na Seidel gelang mit ihrem
Obei Diederichs erschienenen Lebens-
roman des Weltenseglers Georg For-
ster, „Das Labyrinth" genannt, ein
Buch von ähnlicher Bedeutung, wie sie
Ricarda Huchs „Großer Krieg" unter
den neueren von Frauen geschriebenen
Büchern gewann. Was zunächst er-
staunt, ist die Beherrschung der stoss-
lichen Fülle. Ina Seidel kennt nicht
bloß Landkarte und Historie des acht-
zehnten Iahrhunderts, sie kennt seine
Menschen und sieht sie leibhaftig vor
sich mit all ihren Besonderheiten, in
ihrer spezifischen Umgebung und sie
gibt ihrer Schilderung, die fast durch-
weg Gestaltung wird, das jener ver-
sunkenen Welt angemessene Lempo.
Nichts bleibt von bewußter Nmdeutung
ins Gegenwärtige, die man heute so
 
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