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Kunstwart und Kulturwart — 36,2.1923

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Heft 8 (Maiheft 1923)
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Sokratiker
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Jaspers, Karl: Schizophrenie und die Kultur unserer Zeit
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https://doi.org/10.11588/diglit.14438#0094

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richt, sondern er trieb Philosophie, indem er gelegentlich mit scherzte, mit
trank, mit zu Felde zog und mit auf den Markt ging, schließlich auch sich
gefangen setzen ließ und den Giftbecher trank. (Lr war der erste, der zeigte,
daß die Philosophie >das Leben in seinem ganzen Verlauf und in seinem
ganzen Umfang, kurz mit allen seinen Erfahrungen und seiner gesamten
Tätigkeit umfasse. So muß man auch über Politik denken.

Theophrastos

/Aute Bürger brauchen wenig Gesetze; denn die Gesetze richten sich nach
^den Verhältnissen, nicht die Verhältnisse nach den Gesetzen.

Schizophrenie und die Knltur unserer Zeit

Von Karl Iaspers

^-M^as Folgende bildet den Schluß eines Buches von Prof. Iaspers-
/Heidelberg, welches „Strindberg und vanGogh, Versuch einer
pathographischen Analyse unter vergleichender Heranziehung von Swe-
denborg und Hölderlin" heißt und bei E. Bircher in Leipzig erschienen ist
(Arbeiten zur angewandten Psychiatrie, Bd. V, VIII und S.). Es wird eine
Frage behandelt, welche Künstler, Schriftsteller, Kunstfreunde und Literatur-
freunde dieser Zeit häufig erörtern. Die Frage nach dem Zusammenhang
zwischen allgemeinem Geistesleben und Produktion unserer Zeit einerseits,
Geistes-Erkrankung anderseits. Solche Erörterungen pflegen zu allermeist
fruchtlos und mangels sachlicher Kenntnis und Kritik ins Uferlose zu ver-
laufen. Anderseits beteiligen sich neuerdings in höchst dankenswerter Weise
erfahrene und weitblickende Psychiater an der öffentlichen Debatte durch
Beiträge, welche für die Lrkenntnis der Zeit wesentliche Bedeutung haben.
So Prinzhorn, von dem wir kürzlich berichteten. So auch Iaspers mit der
vorliegenden, ungemein vorsichtigen, sprachlich die Erscheinungen zart ab-
tastenden, entscheidende Grundlagen aber auch klar abgrenzenden Studie
über zwei besonders wirksame Geister wie Strindberg und van Gogh. Das
allgemeiner gehaltene Schlußkapitel der lesenswerten Arbeit möge einen
Hinweis geben, wie wenig mit Phrasen zur Kritik der Zeit gewonnen wird,
wieviel anderseits umsichtige Prüsung dazu beitragen mag. K-L

Ls ist eine auffallende Tatsache, daß Heute eine Reihe schizophren gewor-
dener Menschen von hohem Rang durch Werke aus der schizophrenen Zeit
eine Wirküng haben. Strindbergs Wirkung beruht vor allem auf denjenigen
seiner Dramen, die nach dem zweiten Schub im Endzustande geschaffen
wurden, van Goghs Wirkung vorwiegend auf den Bildern der schizophrenen
Zeit. Hölderlins Dichtungen aus den ersten Iahren der Krankheit waren
nur Leilweise bekannt, spielten nie eine besondere Rolle und werden in ihrer
Gesamtheit erst heute von einigen als Höhe des Hölderlinschen Werkes
gewertet. Wir sahen ferner, daß Iosephsons Zeichnungen aus seiner Schizo-
phrenie heute gefeiert werden, während man sie vor zwölf Iahren noch
ohne erhebliches Interesse fand, ja daß man jetzt im Begriffe ist, die Kunst
der Irren als Kunst und nicht bloß als psychologisches Waterial für psychi-
atrische Forschung wichtig zu finden.

Gehen wir in der abendländischen Geschichte vor das (8. Iahrhundert
zurück, so finden wir keine Schizophrenen, die für ihre Zeit die kulturelle
Bedeutung gehabt hätten, wie diese wenigen Schizophrenen, mit denen
wir uns beschäftigt haben. Man fragt vielleicht, ob nicht auch ^früher


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