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Kunstwart und Kulturwart — 36,2.1923

DOI Heft:
Heft 8 (Maiheft 1923)
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Riehl, Wilhelm Heinrich: Musikalische Bemerkungen
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https://doi.org/10.11588/diglit.14438#0086

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E

Musikalische Bemerkungen

Von W. H. Riehl*

die Herren von der hohen Kritik fragen, ob denn die bloße
H HVolkstümlichkeit einer Musik beweise, daß dieselbe auch künstle-
^^^risch etwas wert sei, so antworte ich mit Ia. Niemals ist ein Lied
in Deutschland zu einer wirklichen Weise des Volkes geworden, welches nicht
wenigstens drei Vorzüge in sich vereinigt: Lrstlich leichten und natürlichen
Fluß der Melodie; denni was den Leuten nicht wie im Schlafe ins Ohr jge,-
schlichen kommt, das bleibt auch nicht darin sitzen. Dann eine Originalität
glerch dem Ei des Kolumbus, daß jeder meint, so etwas Habe er auch machen
können und doch hat es nur einer gemacht. Endlich jene milde, stille, behag-
liche Wärme der Empfindung, die man — mit einem arg mißhandelten Worte
— „Gemütlichkeit" nennt, die Mutter des Zwillingspaares der gesunden Sen-
Limentalität und des echten Humors. Wo diese drei nicht beisammen sind,
da bleibt auch das sonst schönste Lied nicht beim Volke sitzen; wo sie aber bei-
sammen sind, da waltet wenigstens Gesundheit des Gedankens, Frische der
Erfindung und leichte Anmut der Form, und ich glaube, diese Vorbedingun-
gen der Volkstümlichkeit sind auch Vorbedingungen zu aller wahren Kunst.
s wird in neuerer Zeit ein großer Anfug getrieben mit dem Gerede von
politischer Musik. Die Musik hat aber an sich mit den Formen. dep
StaaLslebens gar nichts zu schaffen. Politisch bedeutsam kann sie nur
insofern werden, als sie ästhetisch gut oder schlecht ist. Eine verführerisch
schlechte Musik, die verweichlichend, überspannend, entnervend auf den Volks-
geist wirkt, muß allerdings sozial destruktivi revolutionär, wenn man will,
genannt werden. Die Aufgabe des Staatsmannes als eines politischen
Pädagogen wäre dann aber auch lediglich, mitzuwirken, daß die Leute bessere
Musik zu hören bekämen und die Iugend zu einem ernsteren künstlerischen
Urteil herangebildet würde.

Dagegen steht die kunstgeschichtliche Entwicklung derMusik allerdings — und
hierfür ist uns eben Spontini ein so schlagendes Beispiel — unter dem Ein-
slusse auch der großen politischen Bewegungen und Gestaltungen der Zeit. Alle
Kunstgeschichte ist ein Stück Kulturgeschichte, und diese kann wiederum in kei-
nem ihrer Teile gedacht werden ohne den engsten Zusammenhang mit der poli-
Lischen Geschichte. Es wirken aber nicht sowohl die Erscheinungen im Staats-
leben unmittelbar bestimmend auf die Kunstschöpfungen, als vielmehr Kunst-
leben und Staatsleben in gleicherArsprünglichkeit nebeneinander von jenen ge-
heimnisvollen Stimmungen getragen und bestimmt werden, die sich als das
Produkt der gesamtenLebenstätigkeitderVölkerorganismenoffenbaren.Darum
wird der wahre.Kunsthistoriker dieKunstgeschichte gar nicht konstruieren nach der
politischen, aber er wird sich auch nicht entschlagen können, die zeitlichen Ge-
staltungen des Staatslebens herbeizuziehen zur Begründung, Erläuterung
und Verdeutlichung der Charakteristik der Zeit, die in Kunst, Wissenschaft und
Politik stets eine harmonische, in den Grundzügen einheitliche sein wird.
H)ei dem internationalen Austausch der Kunstwerke kommt es übrigens
^vorab darauf an, was wir geben und nehmen. Es ist ein großer Anter-
schied, ob eine fremde Nation sich bei uns einbürgert durch,Meisterwerk>e.,
wie wir sie in solcher Art und Güte gar nicht besitzen, oder' durch Mode-
werke des Tages. Vorab gibt es eine Weltliteratur in allen Künsten, die

^ Entnommen aus Riehls kunstgeschichtlichem Skizzenbuch „Musikalische Cha-

rakterköpfe" (2 Bde., erschienen bei Cotta in Stuttgart), einem der reizvollsten
BücherRiehls, das übrigens musikkulturhistorisch noch heute einzig in seiner Artist.

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