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Kunstwart und Kulturwart — 36,2.1923

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Heft 12 (Septemberheft 1923)
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Vom Heute fürs Morgen
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https://doi.org/10.11588/diglit.14438#0278

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Vom ZeuLe fürs Morgen

Ersatz im Geiftigen

s ist keine ahsolute, doch ist es eine
natnrlicheForderung, daß die geistige
Haltung einer Zeit ihr eigentümlich,
daß sie selbständig sei. Wag immerhin
eine Alnzahl der letzten, entscheidenden
Einstellungen zu den größten Daseins--
fragen überzeitlich und uns mit Ver»
gangenen gemeinsam sein, das Metall
das gleiche,welches Frühere brauchten, —
die Prägung soll unsere sein. Oder sind
wir zu schwach? Oft, sehr oft scheint es
so. And vollends sind die Mtäre dieser
Zeit selten, ach sehr selten dem unbe->
kannten Gott der Zukunst oder dem
harten Gott der Gegenwart errichtet.
Auf ihnen thronen die lange Ent--
thronten aller Vergangenheiten. Wel-
chen Kulten begegnet man da nicht
allerorten! Irgendwo werden Wodan
und Teut verehrt, anderswophantasiert
man sich den olymplosen Himmel voll
mit den Göttern Griechenlands. Kung-
fu-tse werden Opfer dargebracht nnd
Buddhismus wird gemimt. Gemimt
wird dieses alles. Denn es ist nicht
wahr, daß diese Mythengestalten, Ge-
setzgeber und Heiligen wahrhaft ver-
ehrt, das heißt: daß in ihnen und ihrer
Lehre gelebt würde. Anter tausend
„Verehrern" des Lao Tse ist nicht
einer, der auch nnr versucht, seine Lehre
wahrzumachen, unter tausend Wodan-
kultlern keiner, der diese religiöse Ge-
stalt religiös nimmt. Wie sonst? Leider
nicht ästhetisch; das wäre zwar eine
schiefe, meist gewiß auch unfruchtbare
Haltung, doch keine falsche; die wir
heute gewahren, ist abev im schärfsten
Wortsinn „falsch", sie ist Selbstbetrug.
Ein romantisches, schwächliches Sich-
hinfühlen, ein unwissendes Sich-ein-
fühlen in vergangene Empfindungen,
ein zaghaft-unsachliches, niemals ein
kühn umbildendes Erörtern kaum ver-
standner Lehren. In Wahrheit: Ab-
kehr vom Heute nach rückwärts statt
vorwärts. Mcht nur die Gegenstände
fruchtloser Verehrung nimmt man aus
dem gefährlichen Schatz des Einst, so-
gar die Ideale des eigenen Wesens
und Wollens. Da laufen nun Zeit-

genossen herum, die sich in den ^Kopf
gesetzt haben, „gotisch" sein zu müssen.
Aachdem vor Iahren schon einige mo-
derne Iuden das Exempel vorgemacht
haben, wie man sich mit „nationalem"
Extrakt aus der Vergangenheit zu er«
höhter Selbstaffektion einfärbt, indem
sie den „Geist des Iudentums" ent-
deckten, daraus ein Ziel des jüdischen
Daseins destillierten und nun eifervoll
sich zu Trägern dieses Geistes aufzüch-
teten, probieren „germanische Ärier"
nun ein Gleiches, das heißt: setzen sich
gute Slavogermanen und andere „Ras-
senmischlinge" mit ahnungslosem Ehr-
geiz das Ziel, den Geist der Lherusker
oder Goten im Innern und selbst im
Äußeren zu repräsentieren. „Gemein-
schaft" ist eine andere gemeinsanre Lo«
sung eines guten Schocks von Sekten,
deren Leilnehmer die Einsamkeit des
Heutigen weder entschlossen tragen, noch
kraftvoll durchbrechen können; wo abev
immer Gemeinschaft erstrebt wird —
wer durchdenkt die Äufgabe, die in
diesem Zielwort liegt? wo wird Ge-
meinschaft spontan, aus abstrichlos heu«
tiger Geistig- und Seelischkeit gebildet?
Wo spukt nicht in den Köpfen urchrist-
liches oder mittelalterliches Vorbild,
das nie zu erreichen ist? Alls im
Kriege pazifistisches Sehnen Gewalt ge-
wann, ist mehr daraus erwachsen als
schwacher Aufguß zweitausend Iahre
lang zum Aberfluß schon diskutierter
christlicher Ethik statt selbstgeschriebener
Gesetzestafeln? Das sind Beispiele. Dis
Liste ist lang; sie könnte dreimal so
lang sein. And inzwischen entgleitet
den Leuten des Ersatzes der Dag. In-
dem sie ihr noch so bescheidenes Eigen-
sein eintauschen für aufgewärmte Aln-
tiquitäten und unechte Selbst-Erpres-
sungen, verlieren sie die Stunde, die
sie nicht meistern können, es sei denn
aus sich heraus. Von Erneuerung
wurde so viel gesprochen — hat man
gemeint, durch Erneuerung Ersatz schaf-
fenzumüssen, oder hieß es nicht eigent-
lich: uns wollten wir erneuern aus
dem Kern heraus?

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