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Kunstwart und Kulturwart — 36,2.1923

DOI Heft:
Heft 11 (Augustheft 1923)
DOI Artikel:
Illinger, Werner: Untragisches Leben
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https://doi.org/10.11588/diglit.14438#0211

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Llntragisches Leben

betrachte ein Reh, das seine Lebenstage ohne besondere Erregungen
^C nach den Forderungen seiner Natur verbringt. Es folgt seinem be-
^Fstimmten Wechsel, um zu den Futterplätzen zu gelangen. Zur ZeiL erliegt
es der Werbung des Bockes. Dann kommt die Sorge um die Iungen. Das
ganze Dasein von der Furcht vor Gefahren umwittert, die überall geahnt
werden, aber nur dumpf, selbstverständlich gegenwärtig. Da fühlt es plötzlich,
ohne einer ihm begreiflichen Rrsache innezuwerden, einen kurzen heftigen
Schlag an der Schulter, vernimwt einen entsetzlichen nahen Knallaut — und
obwohl es erkannt, daß nun die eiligste Flucht seines Lebens geboten ist,
und seinen flinken Gliedern also befiehlt, stürzt es zu Boden rnrd muß die
MördergestalLen erwarten, die mit dunklen Abfichten nahen, vor denen es
kein Entrinnen gibt.

Dieser Augenblick zerstört die Eindeutigkeit der Welt in der Betrachtung
dieses Tieres, weil eine Wirkung mit eindrücklicher unmittelbarer Gewalt
erlebt wird, die ihre Arsache verbirgt. Es ist der Augenblick, in dem das
Wesen als Subjekt aus den Erscheinungen heraustritt; als Subjekt im ur-
sprünglichen Wortsinn: als „Unterworfenes" unter Absichten, die sich der
Erkenntnis entziehen. Dieser SLurz aus der Sphäre der bekannten Bezie-
hungen in den bodenlosen Zweifel von Gefahren, die durch Vergleiche nicht
geklärt werden können, bedeutet eine Tragödie. Das tragische Erlebnis ist
überall dort echt, wo die Einheit der Welt, d. h. die Identität von Subjekt
und Objekt, zerspalten wird, ohne daß die Vernunft imstande ist, diesen
Bruch etwa als notwendige Folge der schmerzhaften Geburt ins Ich-bewußt-
sein hinein zu erklären. Erkennen wir, daß ein Widerfahrnis uns stärkt,
uns lehrt, die Welt umfassender und klarer zu begreifen, dann verliert es
seine schmerzliche Gewalt und dunkle Entsetzlichkeit. tzingegen: das tragische
Erlebnis ist ohne Lösung und Befreiung.

Der Mensch, der in diesem Sinne zur Tragödie fähig ist, muß noch tief
in der Weltangst befangen sein. Ich nenne den weltängstlich, dessen Wege
zu der geistigen Anschauung der Lebenserscheinungen hin unweit ihrer Äus-
gangspunkte von der Begehrlichkeit der Sinne vermauert sind. Auf dieser
halben tzöhe glaubt man an das „Schicksal"; es ist der Zufluchtsort für den
unentschlossenen Wanderer. Deshalb macht die Aussicht von dieser halben
tzöhe furchtsam: es wird nämlich erkannt, daß das Tal der Geburt und der
sinnlichen Gewohnheiten mit anderen Tälern verbunden ist durch die sließen-
den Gewässer der Zeit. Der Betrachter kann aber noch nicht überschauen,
daß diese Rinnsale in die Meere der Zeitlosigkeit,münden. Schon soweit
erhoben zu sein, über sich hinausschauen zu können, aber noch nichts weiter
zu sehen, als tausendfache Spiegelung der eigenen Befangenheit, das ver-
wirrt und macht ängstlich vor dieser Welt der ewigen Wiederkehr. Inner-
halb dieser Felsenkessel besteht die Möglichkeit von Vertauschungen. Wer
nimmt sie vor? Ein Unerforschliches, ein Gott, der alle menschlichen Leiden
abgestreift hat, das Schicksal.

An diesem tzalbmenschen kann tragisches Erleben wahr werden. — Er
versucht seine Existenz, die zwischen Bewußtheit und Triebabhängigkeit
schwankt, von außen zu stützen und zu befestigen: durch Würde, die der
Staat, oder der Besitz von Familie verleiht, durch Aneignung von Vor-
urteilen aller Art: Kirche, Standesehre usw. Er erwirbt sich auf diese Weise
eine Lebensanschauung, die im Grunde keinen anderen Sinn hat als daß

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