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Kunstwart und Kulturwart — 36,2.1923

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Heft 8 (Maiheft 1923)
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Sokratiker
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https://doi.org/10.11588/diglit.14438#0088

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Sokratiker

IMn sehr bedeutendes Werk hat Wrlhelrn Nestle vollendet. Vor Iahren
schon gab dieser ausgezeichnete Philologe einen Band „Die Vorsokratiker"
heraus: die Fragmente jener außerordentlichen ersten Denker des Abend-
landes in lesbarer.Äbersetzung mit flüssiger, nicht oberslächlicher Einlertung.
Dieser ist nun als erster Band einer vierbändigen Gesamtausgabe antiker
Philosophenfragmente in zweiter Auflage (bei Diederichs rn Iena) erschre-
nen: Die Vorsokratiker — Die Sokratiker — Die Nachsokratiker.^ Auch dre
drei neuen Bände des stattlichen Werkes bestehen aus guten, lesbaren Aber«
setzungen mit führerhaften, schlichten Linleitungen in die geschrchtliche Ent-
wicklung. Ein sehr erwünschtes, ja einzigartiges gemernverständlrches tzilfs-
mittel zur Beschäftigung mit der Antike ist damit gewonnen, das wrr nach-
drücklich empfehlen.

Als wir kürzlich ein Fragment des Epikuros aus Diogenes Laertius ab-
druckten, haben sich einige Leser des Kunstwarts gewundert, warum wir auf
dergleichen Veröffentlichungen eingehen. tzierzu sei dieses gesagt: die grie-
chische und ihr verwandte römische Philosophie hat einen besonderen Wesens-
zug, eine besondere Bedeutung, um derentwillen wir auch Äbersetzungen wie
die vorliegende von Bestle für gewichtige Ereignisse halten. Sie ist im Sinne
moderner Wissenschaft nicht durchwegs zugänglich; im Gegenteil, vieles, was
damals ernst genommen wurde, kann uns heute überhaupt nicht mehr be-
schäftigen, manches ist einer Lösung zugeführt, was damals Problem blieb,
etliches erscheint kindlich, etliches langweilig. Aber die tzauptmenge dieser
denkerischen Arbeit ist aktuell und, was entscheidend ist: in ihrer lebendigen
Form und Prägung jedem Willigen zugänglich. An dieser unvergleichlichen
Eigenschaft allgemeiner Zugänglichkeit erkennt man den Ursprung der grie-
chischen Philosophie aus dem Volke. Damals war Philosophieren Ge-
meingut. Nur so erklärt sich ein „tzausbuch" wie der Diogenes Laertius.
And darin liegt die einzigartige Kraft selbst der Fragmente begründet, heute
noch zu selbständigem Denken anzuregen.

Aktuell sind besonders die Sokratiker und die Späteren. Mit Recht hebt
Nestle dies hervor, daß alle diese Griechen freie, undogmatische, religiös nicht
gebundene und daß sie ebenso intuitiv-phantasievolle wie rational-scharf-
sinnige Köpfe waren. Die Sokratiker aber, sagt er weiter, waren bewegt von
den großen Fragen nach der richtigen Lebensweise: Wie wird man glück-
lich? Was ist das höchste Gut? Worin besteht die Sittlichkeit? And damit
treten sie in die Reihe derer, die zu uns unmittelbar sprechen können! Neh-
men wir hinzu, daß sie wohl so ziemlich alle theoretisch möglichen Antworten
auf solches Fragen in ihren mannigfachen Schulen gegeben und diese Lehren
auch im Leben wahrgemacht haben, daß sie das wirkliche Verhalten des
Menschen im Auge hatten, des von Religion nicht geleiteten Menschen zwar,
daß sie ein freies und weites Menschheits-Ideal erzielten, so erweisen sie
sich der Betrachtung als fruchtbarste und reizvollste Anreger auch der tzeuti-
gen — unsere Lage ist in seltsam hohem Maße die ihre, und je Liefer wir
eingesehen haben, daß unsere um Iahrtausende weiter entwickelte Wissen-
schaft uns wohl zu zahlreichen Erkenntnissen des Seienden geführt hat, zur
Erkenntnis des Sein-Sollenden aber nichts beiträgt noch beitragen kann,
umso freier treten wir ihren von Erlebnis heißen und lebendig geprägten
Versuchen gegenüber. _

* Aber diese ganz untunliche Bezeichnung sei nicht gerechtet; sie geht auf einen,
offensichtlich fehlgehenden Wunsch des Verlags zurück!
 
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