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Kunstwart und Kulturwart — 36,2.1923

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Heft 8 (Maiheft 1923)
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Riehl, Wilhelm Heinrich: Musikalische Bemerkungen
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https://doi.org/10.11588/diglit.14438#0087

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wir fast als ein Gemeingut der Nationen betrachten. Wenn Shakespeare
zeitweilig die deutsche Poesie beherrschte, so dachte niernand an eine
Verleugnung der deutschen Äationalitat zu Gunsten der engiischen. Nun
waren aber die ausländischen Opern, welchen das deutsche Publikum solange
den Vorzug gab, nichts weniger als „Weltliteratur", während die ersten
deutschen Meisterwerke der musikalischen Bühne, vom Auslande oft so spröde
abgelehnt, diesen Charakter in der Tat behaupten.

^ie Sagenwelt gehört kindlich primitiven Stufen der Kultur. Sie wirtt
^auf uns in vollem künstlerischem Reize; aber sie wirkt auch nur, wenn
sie sich in den Formen kindlich einfacher, naiver Darstellung bewegt.
Mitunter gelingt der entwickelten Kunst dieser naive Ton des Vortrags, wie
wir's etwa von Goethes „Erlkönig" oder von einigen der besten Balladen
Ahlands rühmen können, oder in der bildenden Kunst von Moritz von
Schwinds Märchew- und Sagenbildern. Es ist aber unendlich schwierig,
solch schlicht naiven Ton auf der Bühne zu treffen, und vollends gar auf
der Opernbühne. Hier muß der Textdichter und Komponist notgedrungen
starke Drucker aufsetzen und in derben Farbenkontrasten malen, beide dürfen
nicht im schlichten Tone des Volksliedes dichten und singen, der vortragende
Sänger selbst muß hochpathetisch akzentuieren, und je höher DekorationA-
und Kostümwesen ausgebildet ist, um so gewisser reißt es uns aus der Illu>-
sion der dämmernden Sage, die eben nur in der eigenen Phantasie Leben
gewinnen kann, wenn dieselbe einem einfach erzählenden Vortrage folgt,
der uns gar keine Zeit und Stimmung läßt zur realistischen 5^ritik. Mle
unsere romantischen Opern — auch die besten nicht ausgenommen — ver«
fallen dem Fluche des Theatralischen, sowie sich die tzauptpersonen im Zau-
berkreise der Sagenwelt bewegen. Ich erinnere nur an die öftere Behand-
lung des „Aschenbrödel" durch Mccolo Isouard, Rossini und andere, an
Boieldieus „Rotkäppchen", an Marschners „tzans Heiling", Spohrs „Faust",
Webers „Oberon", wie nicht minder an die von Wagner behandelten größe-
ren Stoffe der mittelalterigen Sagenkreise. Wer mit unserer mittelalterigen
Volksepik vertraut ist, wer den echten reinen Stil der Volkssage und des
Volksliedes in der Poesie kennt, der weiß auch wie wenig hier von. der
Naivität des Sagentones im großen oder kleinen Stile zu finden ist. Das
Wesen der Oper widerspricht eben diesem Tone.

^ie Musik braucht zur Aussprache ihrer Gedanken weit mehr Zeit
^als die Poesie im gesprochenen Worte. Ein musikalischer Satz, der nur
aus wenigen Takten besteht, wirkt nicht, selbst wenn die energischsten Mittel
in diesem kleinen Rahmen ausgewendet sein sollten; denn nur durch the-
matischen Aufbau wird der musikalische Gedanke Musik, die „Phrase" zum
„Satze". Beim gesprochenen Wort ist dies anders. Der Poet Hat es besser.
Lr kann in wenigen Versen eine ganze Situation, er kann einen höchstM
dramatischen Effekt in Epigrammen des Dialogs geben. Die Musik wider-
strebt dem Epigramm, vorab die Musik im großen Raum, die Musik der
Bühne. Wäre es bloßer Zufall, daß unsere Opern immer länger tverden?
Sie werden länger, weil man dramatisch immer schärfer motivieren will,
äußerlich aber widerspricht dieser breite Bau der Bühnendramatik.. Das ist
ein böser Zirkel. Die moderne Oper wird zuletzt an der Breite ihrer dramati-
schen Motivierung ersticken, wie die altitalienische an ihren Ärien erstickt
ist. Dagegen dichten wir jetzt keine Bühnendramen mehr von der Länge des
„Hamlet", ,des „Don Carlos" oder „Götz". Die modernen Schauspiele sind um
deswillen nicht poetischer geworden als jene alten, aber sicher bühnenmäßiger.

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