Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Kunstwart und Kulturwart — 36,2.1923

DOI Heft:
Heft 12 (Septemberheft 1923)
DOI Artikel:
Schumann, Wolfgang: Deutschlands Weg
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.14438#0249

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext



Deutschlands Weg

xr^s sind ein paar Tage gewesen — neun Iahre vergingen seitdem —,
I)^da fuhr ein Sturm in die Herzen der deutschen Menschen; alle Willen
entzündeten sich, die Flammen brandeten in einen Glutstrom, und
Hunderttausende empfanden, erlebten, taten, was sie nie erlebt, kaum ge«
ahnt hatten. Krieg riß die lebendigen Glieder Deutschlands in das Kraft«
feld höchster Spannung.

Neun Iahre sind vergangen. Was begonnen hatte mit entflammtem
Ein«Willen des Volkes, war nicht heldenkühner Vordrang, Opfer, Reini«
gung und Erhöhung, sondern im rasch verblichenen Scheinglanz des Auf»
schwungs das einschneidendste Volksschicksal seit Iahrhunderten; es war Er-
probung, Zentnerlast, Seuche, Schmach, Erniedrigung, Siechtum und großes
Sterben. Keinen Tag seither hat es ausgesetzt, und die Hoffnung träumt
heute nur eben davon, daß vielleicht es aussetzen könne, wenn zwei volle
Menschengeschlechter in den Boden gesunken sein werden.

Äberall wo Krieg war, ist heute Leiden und Irrsal. Türken und Bul»
garen sind in Schwäche gestürzt. Osterreich blutet und erstarrt; auch die
siegreichen Völker ächzen; eins von ihnen, das russische, ist bedeckt von
tausend Wunden; andere ringen zuckend um Aufstieg aus Not und Elend:
das südliche Slavien, Polen, Italien, Böhmen. Die begünstigten noch
sind krank: Frankreich von Furcht durchzittert, zwängt den schwachen, von
mancher Wunde geplagten Körper mühsam und widerwillig in den kaum
tragbaren Panzer, Belgien baut lahm Ruinen auf, England krankt an
Millionen Untätigen, asthmatisch in der Spitalluft des Kontinents. Alle!
Einer wie der andre. . . .

Ein Land allein trägt den zehnfachen Fluch. Eins stürzte von höherer
Höhe in tiefere Nacht als alle. Deutschland.

Wärst du ein Mensch, Vaterland, wer wagte es, mit eines Wortes tzauch
dir zu nahen, das nicht reinste Liebe wäre! wer stünde in deinem Anblick
wartend, „tatenarm und gedankenvoll", wer eilte nicht, zu lindern, zu
helfen, deine Wege zu bereiten und deinen Fuß zu stärken! Wem verschlüge
es nicht das Äort, wem versetzte es nicht den Atem, wer schämte sich nicht,
an solchem Krankenlager zu philosophieren! Wer empfände nicht: „Die
Tat ist alles, nichts das Wort"?

Tausendsäl'iger, unbegreislicher, in Dauer und Wechsel unaussprechlich
rätselhafter, ^ ensgewaltiger, leidensfähiger und gesundungkräftiger ist ein
Land und Vou, als das eine, kleine Menschenkind. Hier ist nicht krankes
Herz, gebrochener Schenkel, zerschlagene Hirndecke, nicht zermürbtes Nerven-
gewebe oder kränkelnde Lunge; viel zu klein sind alle solchen Bilder des
Vergleichs. Das Größte, das unserer Anschaung zugänglich ist als ein
„Organismus", lebend über Iahrtausende hin, hunderttausendfach reicher
als das Menschenkind, das ist ein Volk auf seinem Land. Es erträgt
millionenfach Schwereres als du und ich und vergeht nicht. Ihm sterben
zehntausend Glieder am Tag und zehntausend werden geboren. Ihm kran-
ken hunderttausend, und hunderttausend gesunden zugleich. Gift strömt

22i

Septemberhest t923 (XXXVl, 12)
 
Annotationen