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Kunstwart und Kulturwart — 36,2.1923

DOI Heft:
Heft 10 (Juliheft 1923)
DOI Artikel:
Schumann, Wolfgang: Kunst, Schrifttum und Musik in dieser Zeit
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https://doi.org/10.11588/diglit.14438#0154

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Kunst, Schrifttum «nd Musik in dieser Zeit

ine scheinbar ganz äußerliche Frage wurde an uns gerichtet und gab
U Anlaß zu den folgenden Bemerkungen: warurn wir wohl neuerdings

uns so viel mit Werken der bildenden Kunst und über sie beschäftigen?
Antwort: Weil die bildende Kunst heute „an der Spitze" ist.

Geheimnisvoll am lichten Tag, sind die freien Künste jeweils reine Schöp«
fung des schaffensfähigen Ichs, Spiegel der Zeit in Hunderten ihrer ver»
flochtenen Wesenszüge und abhängig von ihr, und Verkündigung kommenden,
von ihren Schöpfern voraus-erlebten Weltgefühls. Alles dies — und mehr
— sind sie zumal, in einem, in ihrer zeitlichen Fülle ein Menschheitwerk,
das sich wandelt und mehrt, wächst und entwickelt wie die Menschheit selber.
Iezuweilen aber bringt eine Kunstgattung mehr äls die anderen, deutlicher
und entschiedener ans Licht, was Anliegen und Sinngehalt der kommenden
Zeit sein mag. Heute erfüllt die bildende Kunst diese Aufgabe.

Sehen wir uns um! Daß die Dichtung nicht „führt", scheint mit tzänden
zu greifen. Sie hat die Führung vor nicht allzulanger Zeit gehabt. Im
G- Iahrhundert bezeugte und leitete sie das durchwaltende Streben nach
inniger Fühlung mit Wirklichkeit. Der geistige Teil der herrschenden Schicht
Guropas hatte seine Zeit nicht begriffen, lebte in abseitigem Idyll, in ideali-
stischer Unkenntnis, in ahnungslosem Behagen, in überlebten Lebensformen
dahin. Schrifttum, von Puschkin, Balzac, Thackeray bis zu Björnson, Kiel--
land, Kipling, Zola und den deutschen Realisten wurde Land für Land aus
der Kraft schöpferischer Naturen erschreckender Spiegel der neuen, sich mecha«
nisierenden, bald mechanisierten Zeit und damit in seinen Anfängen Ver«
künder des kommenden realistischen Weltgefühls. Mit herrischer Gebärde
riß es den Leser hinein in die Fülle, in die Schrecknisse, das Llend und in
Größe und Pracht der Wirklichkeit. Zurückgeblieben war, in solchem Be-
tracht, die Musik, welche bis zu Wagners spätesten Nachfolgern, bis zu
Pfitzner und den Gurre-Liedern Arnold Schönbergs romantische Traum-
Erfüllung geblieben ist. Zurückgeblieben die bildende Kunst, die trotz der
Freilicht- und Impressionismus-Bewegungen dem Lebensgefühl der Zeit
fern blieb. Die realistische Welle schäumte ein letztes Mal in Arno Holz'
Schaffen und in Gerhart tzauptmanns frühen Werken auf, dann verfloß sie,
sich teilend in mancherlei Strömungen; Deutschland, wo sie zu spät erschie-
nen war, sah den tragischen Vorgang, daß die großen Ansätze zu einem
entschiedenen und klassischen Naturalismus im Keim erstickten — die Zeit
war über dieses Erlebnis hinaus. Ein neues Weltgefühl pochte an. Doch
sein Verkünder ward nicht die Dichtung. Es ist zwar viel Redens und Rüh-
mens gemacht worden von einem „literarischen Expressionisinus"; doch schon

Iuliheft ^92Z fXXXVI, ro)
 
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