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Kunstwart und Kulturwart — 36,2.1923

DOI Heft:
Heft 11 (Augustheft 1923)
DOI Artikel:
Illinger, Werner: Untragisches Leben
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https://doi.org/10.11588/diglit.14438#0212

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sie mit großen, wertbetonenden, pathetischen Worten ausdrückt, an welcher
gesellschaftlichen Stelle man sich befindet, also etwas lächerlich Einfaches
mit dem Schimmer einer wohlgegründeten „Weltanschauung" umkleidet, die
er aber für ein sittliches, unpersönlich wirkendes Gesetz hält und als Folge
nnd Ausflujz eines allesbestimmenden Schicksals vergöttert. Bricht nun un-
versehens eine dieser Stützen, so ist dann freilich für ihn die „göttliche Welt-
ordnung" ins Wanken geraten. Er überspringt die Untersuchung der un-
mittelbaren, unpathetischen, oft so simplen Zusammenhänge und forscht ver-
gebens nach einer metaphysischen Erklärung für diese Entthronung des
Schicksals. Er erlebt ein leidvolles Wunder, ein Unbegreifliches. . Zuletzt
scheint ihm in aller Regel diese dunkle Wirkung nicht ohne dunklere Arsache
denkbar. Man erfindet ein allerdunkelstes Wort dafür: Schuld. Bei den
tzalbmenschen, die das Schicksal über sich verhängt haben, gibt es keine un-
liebsame Veränderung ohne — Schuld. Und wenn keine glaubhafte Schuld
aufzufinden ist, so ist es — die tragische Schuld, also eigentlich: die Schuld
der Unschuld.

So geartete Wesen erleben Tragödien, die umso echter wirken, als ihre
Träger in naiver, fast unbewußter Sicherheit eine scheinbar sichere Bahn
durchlaufen; — Tragödien jedoch auch, die allzuleicht lächerlich werden, da
die tragisch ergriffenen Menschen von hohem, etwas aufreizend zur Schau
getragenem Selbstbewußtsein zu sein pflegen. Das Selbstbewußtsein schwin-
det, der Anschein hoher Aberlegenheit fällt ab, der arme, kleine, dumme
hadernde Mensch bleibt übrig . . . Daher bedient sich die Kunst, die Tragödien
formt, mit Vorliebe aller Gestalten, die am Aberglauben und der Weltangst
haften, wie: Herrscher, Feldherren, lyrischer Künstler, Frauen.

Denn an dem Menschen, der sich vom „Schicksal" befreit hat, werden
die Tragödien unglaubwürdig.

W) ückschauend auf den vorigen AbschniLt will ich kurz umschreiben: Tragisch
^kann werden, wer am Leben verwundbar ist.

Es gibt einen Zustand — er ist das Ziel jeder Persönlichkeitsent-
wicklung —, da die Welt der Erscheinungen und Ereignisse den Menschen
in seinem geistigen Bestand nicht mehr antasten kann. Um ihn zu erreichen,
müssen die Triebabhängigkeiten auf das Mindestmaß, das der Organismus
verlangen darf, beschränkt werden. Dies bedeutet nicht Askese, nicht Abkehr
von der Sinnenfreudigkeit. Es heißt Herrschaft über die Sinne. Es wird
keiner den Wagenlenker schelten, wenn er erst im Abermut seine Rosse
durchgehen ließ, dann aber die KrafL und die Gewandtheit besitzt, sie nach
seinem Willen vor dem Ziel zum Stehen zu bringen.

Der Gebrauch der Sinne ist sogar recht nachdrücklich gefordert, um die
Arteile der Vernunft an der wandelbaren Wirklichkeit zu bestätigen oder
zu entkräften. Nur aus dieser doppelten Erfahrung ersteht die reine An-
schauung, die über die Furcht vor dem Leben und seinen raschen Verwand-
lungen siegt.

Der früher tragische Spalt zwischen eingewöhnt-scheinsicherem Ich und
zwischenfallreicher Welt wird als ursächlich begründetes, begreiflich-einfaches,
gegebenes Verhältnis erkannt (damit untragisch) von dem Geiste, der die
Abhängigkeit von Zeitlichem überwunden hat. Ie intensiver der Geist sich
beschäftigt, den Erscheinungen des Lebens einen eindeutigen, natürlichen
Sinn zu geben, desto unwichtiger wird ihm das jsoziale „Schicksal" seiner

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