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Kunstwart und Kulturwart — 36,2.1923

DOI Heft:
Heft 11 (Augustheft 1923)
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Illinger, Werner: Untragisches Leben
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https://doi.org/10.11588/diglit.14438#0213

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Person. Die Frage nach dem Tode (im metaphysischen Sinn) erhält fünften
Rang. Hingegen gewinnt die ErhalLung des physischen Lebens höhere Be-
deutnng, weil von ihr nun einmal die Form der gewohnten Erkenntnis ab-
hängt. Gleichwohl wird dieses physische Leben gleichsam nur mit lächelnder
Eifersucht beobachtet und gepflegt, und wenn der Leib seinen Dienft versagen
will, wird es ohne Seufzer und Klagen aufgegeben.

Es könnte scheinen, als meine ich mit diesem untragischen Menschen den
Weltabgewandten, der sich selbstbespiegelnden Meditationen hingibt. Dieser
Typus ist ebenso möglich, wie der höchst aktive, gegenwartbewußte und am
Relief der Zeit meißelnde. Wesentlich ist nicht die Art der Beschäftigung,
sondern daß sie ohne Vorurteil aus ihrem inneren Zweck heraus erkannt
und betrieben wird.

Rm an einem Beispiel ganz deutlich zu werden: Es macht sich die Bear^
beitung eines Gesetzes für Erleichterung von Ehescheidung nötig. Wie
reagiert hierauf der tragische Mensch? Er ist geneigt, jeder gerade geltenden
gesetzlichen Bindung einen geheimnisvollen, schicksalhaften tzintergrund zu
geben. Er wittert einen „metaphysischen" Kern, von dem er von vornherein
weiß, daß er seine tiefste Bedeutung nie enträtseln wird. Er hat Furcht, an
Bestehendes zu rühren, denn er ist gewiß, daß irgendwie Schuld daraus
werden kann. Rnter dem Zwang von sozialen Kampfgewalten und unbe-
streitbaren Mißständen gesteht er vielleicht eine Veränderung zu, aber die
unsichere Mahnung des Gewissens, möglichst wenig zuzugestehen, verläßt
ihn nie.

Der untragische Mensch weiß etwa, wie wichtig für den Durchschnitt der
Menschen die moralische Stütze ist, welche ihm daraus entsteht, daß die Ehe
im Grundsatz für unverletzlich gilt. Er anerkennt in.der Ehe ein praktisches
Mittel, der Anarchie der Triebe zu steuern und Kultur des Geschlechtslebens
zu fördern. Andererseits hält er dagegen, wie viel lebendige Kraft durch
allzu starre Fesselung der Verehelichten getötet wird. Er wird sich sachlich
mitten aus den Tatsachen des Lebens heraus entscheiden. Verantwortungs-
bewußt einer wichtigen sozialen Frage gegenüber (die er so eingehend wie
möglich studiert, doch auch so freimütig wie ein tzistoriker die Feldzüge des
Alexander oder ein Ethnograph die Sitten der Bantu), aber nicht in seinem
Gewissen belastet vor einer unbestimmten Drohung, die sich Gott oder Schick-
sal nennt. —

Im Mittelpunkt des Lebens zu stehen und gleichzeitig,über ihm, mit
freiem Ausblick nach allen tzorizonten; leicht zufrieden mit dem, was die
Erde seinem Vergänglichen bietet, nie zufrieden im Drang nach geistiger
Erhellung; unabhängig von den Würden und Würdigungen der Gesellschaft,
ohne sie zu verachten; über seinen Werken sich selbst leicht vergessend: dies
ist der Mensch, an dem Tragik und Schicksal unglaubwürdig geworden sind.
Dorthin befreit Goethe den Faust im 2. Teil des Spiels. Dort stand Goethe
selbst und Mozart und der große Bach.

Auch dies ist ein Kennzeichen für den Menschen, der die Furcht vor der
Zeit (und damit auch der Ewigkeit) überwunden hat: Er nimmt sich selbst
(soweit er Erscheinung unter Erscheinungen ist) nicht allzu wichtig. Er ver-
mag über sich zu lächeln, wenn die Stimme des Eiferers aus seinem Munde
kommen will. Und das Letzte, in dem er sich am tiefsten von dem andern
unterscheidet: sein Herz ist in Güte getaucht. Wenn ihn der Zorn der Sinne
überrascht, wird eine Gebärde der Liebe daraus.

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