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Kunstwart und Kulturwart — 36,2.1923

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Heft 10 (Juliheft 1923)
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Von Bernard Shaw
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https://doi.org/10.11588/diglit.14438#0161

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Satiriker; ein genialer Satiriker, unfruchtbar wie diese ganze Gattung;
ein kritisch-produktiver Satiriker; ein Zeitkritiker neben Ibsen, doch ohne
Ibsens Ernst und Größe; ein geistreicher Denk-Schmetterling; ein geistreicher
Literat; ein Schriftsteller von Geist, ja von geschliffenem Geist; ein litera-
tischer Sozialreformer, der mit den sozialen Problemen interessant spielt,
und sich darin gefällt, sich als Sozialisten zu bezeichnen; ein glühender
Sozialist; ein gläubig-kraftvoller Zukunftkünder; ein amüsanter Komödien-
Schreiber; ein Dichter; ein dichterisches Genie; ein dramatisches Genie. Ein
Genie. Das Genie der Zeit. Die Liste der Widersprüche ist damit nicht
zu Ende: ich habe ihn als Engländer, als Iren und als Iuden bezeichnen
hören, als Abstinenten, Vegetarier, Trinker und Lebemann; als arbeitsam,
gelehrt, wissensreich und als dilettantischen „tzans guck in die Töpf" aller
sechsunddreißig Fakultäten; als sarkastisch, boshaft und hochmütig, als gütig,
sachlich und human . . Ich bin meinen vielen Bekannten nicht böse, weil sie
mir Bernard Shaws Gestalt so bunt gemacht haben. Wer die obengenannten
drei Eigenschaften hat, den muß wohl die Umwelt so farbenschillernd sehen.

Ie mehr ich von ihm kennen lerne, umso ^einheitlicher sehe ich ihn. Es
ist mir, als würde ich es noch erleben, daß ich ihn ganz klar und rein und
vollkommen erblicke. Ich denke mir heute dies: Wenn ein Mensch geboren
wird mit glänzendem Kopf, mit leicht spielender und fruchtbarer Phantasie,
mit starker, aber nicht absolut vorherrschender, auch nicht von Selbstkritik
durchwühlter dichterischer Begabung, mit unbändiger Lust zum Lachen und
mit einem ungeheuren Mißtrauen, dann würde er Shaw unwillkürlich kopie-
ren müssen. Nein! Menschenliebe müßte er auch noch mitbringen.

Das Werden, Tun und Treiben eines solchen Menschen sieht ungefähr
so aus: Der glänzende Kopf will Bahrung; er beobachtet stets, erobert und
ordnet sich seine Welt, lernt viel, doch mit jener auslesenden Kritik, welche
nur das Wichtige sucht und daher mit großen Gebieten rasch fertig, in seinem
Sinne fertig wird und folglich viele Gebiete des Wissens durchmißt. Die
Phantasie modelt die Welt immerfort um, findet neue, wirft in Szenen,
Szenchen, Dramoletts, Dramen, Dramenfolgen unaufhörlich Gestalten und
Begebenheiten heraus, die alle einen scharf geschnittenen Zug haben, da der
glänzende Kopf keine bloße Stimmungmache, Lyrik und Romantik duldet.
Die dichterische Begabung wirft echte Lebensgehalte und allerlei Erschüttern-
des hinein. Die Lachlust macht, daß alle diese Werke, mindestens die meisten,
des tragischen Pathos entbehren, denn wenn mans will, oder vielmehr:
wenn man ein Lachender ist, dann ist einem sogar Gottes Kinnhaar nur
ein lächerlicher Iudenbart und der größte Feldherr der Welt ein armer
Teufel, der nichts andres kann als Kriege führen und in seiner Verzweiflung
nicht weiß, was er denn machen soll, falls zufällig kein Krieg auf dem Pro-
gramm steht. Nun aber das Mißtrauen. Das ist vielleicht das Wichtigste.
Ich spreche natürlich nicht von Mißtrauen gegen Menschen! Das ist eine
Eigenschaft furchthafter und unreifer Menschen, und ich stelle mir die Shaws
so mutig vor, wie sich's mit ihrer Klugheit verträgt (und noH ein klein wenig
mutiger!) und so reif, wie ein andrer Mensch wäre, wenn er das Alter von
zweihundert Iahren wach und gesund und lebfrisch erreichte. Nein, ich meine
Mißtrauen des Kopfes, nicht des Eingeweides. Mißtrauen gegen Lehren,
gegen Äberlieferungen, gegen Autoritäten und Regeln, dazu Mißtrauen
gegen die allmenschliche und auch den Shaws eingeborene Neigung, mög-
lichst rasch zu allerlei Ia zu sagen, sich zu unterwerfen und seinen Frieden
mit irgend einer Einsicht zu machen. Solches Mißtrauen, zutraulicher Mit-
 
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